Elijah und die leise, sanfte Stimme
(rabbisacks.org – Paraschat Korach)
Da erging das Wort Gottes an ihn: „Warum bist du hier, Elijah?“ Er antwortete: „Ich bin vom Eifer für den Ewigen, den Gott der Heerscharen, beseelt ...“ Gott sprach zu ihm: „Geh nur hinaus und stehe auf dem Berg in Gegenwart des Ewigen; denn Gott schickt sich an, vorbeizuziehen.“ Da riss ein großer stürmischer Wind die Berge auseinander und zerschmetterte die Felsen vor Gott. Doch der Ewige war nicht in dem Wind. Nach dem Sturm aber erbebte die Erde, doch Gott war nicht in dem Erdbeben. Nach dem Beben folgte ein Feuer. Doch Gott war nicht in dem Feuer. Nach dem Feuer aber - eine leise, sanfte Stimme“ (1. Kön. 19:9-12).
Im Jahr 1165 sah sich das marokkanische Judentum mit einer quälenden Frage konfrontiert. Eine fanatische muslimische Sekte, die Almohaden, hatte die Macht in Marokko ergriffen und verfügte die Zwangsbekehrung zum Islam. Die jüdische Gemeinschaft wurde vor die Wahl gestellt, sich entweder zum islamischen Glauben zu bekennen oder zu sterben. Manche wählten den Märtyrertod, während andere sich für das Exil entschieden. Es gab allerdings auch jene, die sich dem Terror beugten und zu einem anderen Glauben übertraten. Im Verborgenen jedoch praktizierten viele der „Übergetretenen“ weiterhin das Judentum. Sie waren die Anusim, Conversos, Kryptojuden oder, wie die Spanier sie später nennen würden, die Marranos.
Für die anderen Juden stellten sie indes ein enormes moralisches Problem dar. Wie waren sie zu beurteilen? Nach außen hin hatten sie ihre Glaubensgemeinschaft und ihr religiöses Vermächtnis verraten. Überdies hatte ihr Beispiel eine demoralisierende Wirkung. Es schwächte die Entschlossenheit jener Juden, die sich für den Widerstand entschieden hatten, komme, was wolle. Und doch wollten viele der Kryptojuden weiterhin jüdisch bleiben, befolgten im Geheimen die Gebote und gingen, insofern dies möglich war, in die Synagoge und beteten.
Einer der Konvertierten wandte sich mit dieser Frage an einen Rabbiner. Er sei zwar unter Zwang zum Islam übergetreten, aber im Grunde seines Herzens sei er dem Judentum treu geblieben. Habe er sich auch Verdienste dadurch erworben, dass er im Verborgenen so viele Gebote der Tora wie nur möglich befolgte? Mit anderen Worten, bestand für ihn als Jude noch irgendeine Hoffnung?
Die Antwort des Rabbiners war unmissverständlich. Ein Jude, der den Islam angenommen hat, habe seine Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft eingebüßt. Er gehöre nicht länger zum Hause Israel. Für eine solche Person sei die Erfüllung der Gebote ohne jede Bedeutung. Schlimmer noch: eine Sünde. Eine klare, resolute Entscheidung. Hat man sich dem Judentum verpflichtet, sollte man eher bereit sein, den Tod zu erleiden, als Kompromisse einzugehen. Kehrt man trotzdem dem Judentum den Rücken, so ist es einem nicht vergönnt, in das Haus zurückzukehren, das man zuvor verlassen hat.
Wir können die Bestimmtheit der Position des Rabbiners durchaus respektieren. Hat er doch ohne Umschweife die moralische Entscheidung benannt. Es gibt Zeiten, in denen Heldentum aus religiöser Sicht ein zwingendes Gebot ist. Da mag es wirklich keine andere Alternative geben. Seine Antwort ist wohl hart, aber durchaus nicht ohne Courage.
Ein anderer Rabbiner war jedoch anderer Ansicht. Der Name des ersten Rabbiners ist uns nicht überliefert, der des zweiten jedoch schon. Es war Moses Maimonides, die bedeutendste rabbinische Autorität des Mittelalters. Maimonides war mit religiöser Verfolgung durchaus vertraut. Er wurde 1135 in Córdoba geboren und sah sich dreizehn Jahre später zusammen mit seiner Familie gezwungen, die Stadt zu verlassen, als diese in die Hände der Almohaden fiel. Zwölf Jahre verbrachte er in der Fremde auf Wanderschaft. Im Jahr 1160 erlaubte eine vorübergehende Liberalisierung der Almohadenherrschaft der Familie, sich in Marokko niederzulassen. Doch nach fünf Jahren war er erneut zum Fortgehen gezwungen. Er zog zunächst ins Land Israel und ließ sich am Ende in Ägypten nieder.
Maimonides war über die Antwort des Rabbiners auf die Frage des Zwangskonvertiten so empört, dass er dazu eine eigene Stellungnahme verfasste. Darin distanziert er sich ausdrücklich von dem vorangegangenen Gutachten und tadelt dessen Verfasser, den er als „selbsternannten Weisen, der nie erfahren hat, was so viele jüdische Gemeinden an Verfolgung zu durchleiden hatten“ bezeichnet. Die Gegenschrift von Maimonides, der Igeret Haschemad (Brief über die Zwangsbekehrung), ist für sich genommen eine umfangreiche Abhandlung.[1] Angesichts der Vehemenz, mit der sie beginnt, ist es jedoch erstaunlich, dass ihre Schlussfolgerungen kaum weniger fordernd sind als die des ursprünglichen Schreibens.
Wer sich religiöser Verfolgung ausgesetzt sieht, so Maimonides, muss fortziehen und sich anderswo niederlassen. Ist man gezwungen, auch nur ein einziges Gebot zu übertreten, ist es einem untersagt, dort zu verbleiben. Dann muss man seinen gesamten Besitz aufgeben und Tag und Nacht unterwegs sein, bis man einen Ort findet, an dem man seine Religion ausüben kann.[2] Dies wäre dem Märtyrertod vorzuziehen.
Wer sich allerdings entschließt, lieber in den Tod zu gehen, als seinem Glauben abzuschwören, „hat getan, was gut und richtig ist“,[3] hat er doch sein Leben für die Heiligkeit Gottes hingegeben. Unannehmbar ist es hingegen, zu verbleiben und sich damit zu rechtfertigen, dass man, wenn man sündigt, dies nur unter Zwang tue. Dies sei eine Entweihung des Namens Gottes, „nicht gerade freiwillig, aber doch fast“.
Dies sind die Schlussfolgerungen von Maimonides. Und doch stellt der sie rahmende Text in seiner Ausrichtung eine beharrliche Verteidigung derjenigen dar, die genau das getan haben, was sie seiner Entscheidung nach nicht hätten tun dürfen. Der Brief gibt den Kryptojuden Hoffnung. Wohl haben sie Unrecht getan. Aber es ist ein entschuldbares Unrecht. Sie haben unter Zwang und in Todesangst gehandelt. Sie sind und bleiben Juden. Was sie als Juden tun, findet in den Augen Gottes weiterhin Wohlwollen. In der Tat in zweifacher Hinsicht, denn wenn sie ein Gebot erfüllen, kann es nicht darum gehen, die Gunst anderer zu gewinnen. Sind sie sich doch bewusst, dass sie Entdeckung und Tod riskieren. Ihr geheimes Befolgen der Gebote zeitigt einen ganz eigenen Heldenmut.
Der Irrtum des ersten Rabbiners lag darin, dass er darauf bestand, dass ein Jude, der sich dem Terror beugt, seinem Glauben abtrünnig geworden ist und deshalb aus der Gemeinschaft auszuschließen sei. Maimonides beharrt darauf, dass dem nicht so ist. „Es ist unrecht, Menschen, die den Schabbat entweihen, zu entfremden, zu schmähen und zu hassen. Wir sind verpflichtet, sie als Freunde willkommen zu heißen und sie zu ermutigen, die Gebote zu erfüllen.“[4]
In einer gewagten Interpretation zitiert er den Vers: „Verachte nicht den Dieb, wenn er stiehlt, um seinen Hunger zu stillen, wenn er darbt“ (Sprüche 6:30). Kryptojuden, die in die Synagoge kommen, sind hungrig nach jüdischem Gebet. Sie „stehlen“ Momente der Zugehörigkeit und sollten nicht verachtet, sondern freundlich aufgenommen werden.
Dieser Brief ist ein meisterhaftes Beispiel für die schwierigste aller moralischen Herausforderungen: die Kombination von Vorschrift und Mitgefühl. Maimonides lässt uns nicht im Zweifel darüber, was Juden seiner Überzeugung nach tun sollten. Gleichzeitig aber verteidigt er auch diejenigen entschlossen, die dem nicht entsprechen. Er billigt keineswegs, was sie tun oder getan haben. Doch er verteidigt, wer sie sind. Er bittet uns, ihre Situation zu verstehen. Er gibt ihnen die Grundlage zur Selbstachtung. Er hält ihnen die Türen der Gemeinschaft offen.
Die Argumentation erreicht ihren Höhepunkt, als Maimonides eine bemerkenswerte Folge von Passagen aus dem Midrasch zitiert. Das Grundmotiv: Propheten dürfen ihr Volk nicht verurteilen, sondern müssen es vielmehr vor Gott verteidigen. Als Moses den Auftrag erhielt, das Volk aus Ägypten zu führen, waren seine Worte: „Aber sie werden mir nicht glauben“ (Exodus 4:1). Und damit hatte er im Grunde recht. Die sich anschließende biblische Erzählung deutet darauf hin, dass Moses’ Zweifel wohl begründet waren. Die Israeliten waren ein schwer zu leitendes Volk. Doch der Midrasch sagt, dass Gott Moses erwiderte: „Sie sind Gläubige, die Kinder von Gläubigen, du aber [Moses] wirst letztlich nicht glauben“ (Schabbat 97a).
Maimonides führt eine Reihe ähnlicher Zitate an und kommt zu dem Schluss: Wenn dies die Strafe ist, die den Pfeilern des Universums, den größten Propheten, zuteil wurde, weil sie das Volk kurz tadelten (obgleich sie sich der Vergehen schuldig gemacht hatten, derer sie beschuldigt wurden), können wir uns dann die Strafe vorstellen, die jene erwartet, die die Conversos kritisieren, die sich unter Lebensgefahr und ohne ihren Glauben aufzugeben, zu einer anderen Religion bekannten, an die sie aber nicht glaubten?
Im Zuge seiner Analyse wendet sich Maimonides dem Propheten Elijah zu und jenem Text aus der Haftara dieser Woche, der üblicherweise vorgelesen wird. Unter der Herrschaft von Ahab und Isebel war die Anbetung des Baals zum Staatskult geworden. Gottes Propheten wurden indes ermordet. Überlebende tauchten unter. Elijah reagierte, indem er die Götzendiener auf dem Berg Karmel öffentlich herausforderte. 450 Vertretern des Baals gegenübertretend, war er fest entschlossen, die Frage der Religionswahrheit ein für alle Mal zu klären.
Er forderte das versammelte Volk auf, sich für den einen oder anderen Weg zu entscheiden: für Gott oder den Baal. Sie dürften nicht länger „zwischen zwei Meinungen verharren“. Die Wahrheit sollte eine Probe ans Licht bringen. War die Wahrheit auf der Seite des Baal, würde ein Feuer die von seinen Priestern vorbereiteten Opfergaben verzehren. War sie aufseiten Gottes, würde das Feuer auf Elijahs Opfer herabkommen. Elijah gewann die Gegenüberstellung. Das Volk rief: „Der Ewige, Er ist Gott“ (HaSchem, Er ist Gott), und die Priester des Baal wurden vertrieben.
Aber die Geschichte ist damit noch nicht zu Ende. Isebel stellt einen Strafbefehl für seine Hinrichtung aus. Elijah flieht auf den Berg Horeb. Dort hat er eine sonderbare Vision, wie gleich am Anfang dieses Aufsatzes zitiert. Er erfährt, dass Gott nur mit jener „leisen, sanften Stimme“ spricht. Die Begebenheit ist mysteriös. Eine merkwürdige Besonderheit des Textes macht sie noch rätselhafter. Unmittelbar vor der Vision fragt Gott: „Warum bist du hier, Elijah?“ Und Elijah antwortet: „Ich bin vom Eifer für HaSchem, den Gott der Heerscharen, beseelt ...“ (1. Kön. 9:9-10). Unmittelbar nach der Erscheinung stellt Gott dieselbe Frage, und Elijah gibt die gleiche Antwort (I Könige 19:13-14). Der Midrasch überführt den Text in einen Dialog.
Elijah: Die Israeliten haben Gottes Bund gebrochen.
Gott: Ist es denn dein Bund?
Elijah: Sie haben Deine Altäre niedergerissen.
Gott: Waren es denn deine Altäre?
Elijah: Sie haben Deine Propheten mit dem Schwert erschlagen.
Gott: Du aber bist doch am Leben.
Elijah: Ich allein bin übriggeblieben.
Gott: Hättest du dich nicht lieber für Israel einsetzen sollen, als es anzuprangern?[5]
Die Aussage des Midrasch ist eindeutig. Der Eiferer ergreift die Partei Gottes. Doch Gott erwartet von seinen Propheten, dass sie Verteidiger und nicht Kläger sind. Die wiederholte Frage und Antwort ist nun in ihrer ganzen Tragik zu erkennen: Elijah bekennt sich als Eiferer für Gott. Ihm wird gezeigt, dass Gott sich nicht in einer dramatischen Konfrontation offenbart: weder im Wirbelsturm noch im Erdbeben, noch im Feuer. Gott fragt ihn nun erneut: „Was tust du hier, Elijah?“ Elijah wiederholt, dass er für Gott eifere. Er hat nicht erkannt, dass religiöse Leitung eine andere Art der Tugend erfordert, den Weg der leisen, sanften Stimme.
Daraufhin signalisiert Gott, dass nun ein anderer die Führung übernehmen muss: Elijah soll seinen Mantel an Elischa weitergeben. In turbulenten Zeiten ist die Versuchung für religiöse Leiter, auf Konfrontationskurs zu gehen, kaum zu ermessen. Nicht nur muss die Wahrheit verkündet, sondern auch die Falschheit angeprangert werden. Die Alternativen müssen klar umrissen werden. Etwas nicht zu verurteilen, bedeutet, es zu dulden.
Der Rabbiner, der die Conversos verurteilte, hatte den Glauben im Herzen, die Logik auf seiner Seite und Elijah als sein Vorbild. Der Midrasch und Maimonides zeigen uns jedoch ein anderes Modell auf. Ein Prophet blickt nicht nur auf einen Auftrag, sondern zwei: Leitung und Mitgefühl. Einerseits die Liebe zur Wahrheit, andererseits eine unverbrüchliche Solidarität mit jenen, bei denen diese Wahrheit in Vergessenheit geraten ist.
Die Tradition zu bewahren und zugleich diejenigen in Schutz zu nehmen, die von anderen verurteilt werden, ist die schwierige, aber notwendige Aufgabe [jüdischer] religiöser Leiter in einem „nichtreligiösen“ Zeitalter.
[1] Eine englische Übersetzung von Abraham S. Halkin mit einem Kommentar von David Hartman erschien unter den Titel Crisis and Leadership: Epistles of Maimonides (Philadelphia, Jewish Publication Society of America, 1985) S. 15-35.
[2] Ibid., 32.
[3] Ibid., 30.
[4] Ibid., 33.