Wenn die Wahrheit der Macht geopfert wird

(ordonline.de – Paraschat Korach)


 

Was war falsch an dem Handeln von Korach und seinen Anhängern? Oberflächlich betrachtet war das, was sie sagten, sowohl wahr als auch prinzipientreu. „Ihr seid zu weit gegangen“, sagten sie zu Moses und Aaron. „Die ganze Gemeinschaft ist heilig, jeder Einzelne von ihnen, und Gott ist mit ihnen. Warum stellt ihr euch dann über das Volk des Ewigen?“ (Num. 16:3-4).

 

Sie hatten nicht ganz unrecht. Gott hatte das Volk dazu berufen, „ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk“ (Exod. 19:6) zu werden, dass heißt ein Königreich, in dem jedes Mitglied in gewisser Weise ein Priester ist, und ein Volk, dessen Angehörige alle heilig sind. Moses selbst hatte gesagt: „Ich wünschte, alle aus dem Volke Gottes wären Propheten, und Er würde Seinen Geist auf jeden von ihnen legen“ (Num. 11:29). Das sind radikal egalitäre Gedanken. Warum dann gab es eine Hierarchie, mit Moses als Leiter und Aaron als Hohepriester?

 

Das Falsche an Korachs Aussage war die Tatsache, dass bereits von Anfang an offensichtlich war, dass er doppelzüngig redete. Es gab eine klare Diskrepanz zwischen dem, was er vorgab zu wollen, und seinen eigentlichen Absichten. Korach wollte nicht eine Gesellschaft, in der alle gleich sind, ein jeder Priester ist. Er war nicht, wie er den Anschein erweckte, ein utopischer Anarchist, der jede Art von Hierarchie ganz abschaffen wollte. Vielmehr forderte er die bestehende Führung heraus. Wie die Worte, die Moses später an ihn richtete, zeigen sollten, wollte Korach selbst Hohepriester sein. Er war der Cousin von Moses und Aaron, der Sohn von Jizhar, dem Bruder von Moses’ und Aarons Vater Amram, und er empfand es daher als ungerecht, dass beide Leitungspositionen an eine einzige Familie innerhalb des Familienverbands gegangen waren. Er gab vor, Gleichheit zu wollen. In Wirklichkeit ging es ihm jedoch um Macht.

 

Das war die Position von Korach, dem Leviten. Aber was darüber hinaus geschah, war noch vielschichtiger als das. Es gab noch zwei andere Gruppen: der Stamm Ruben, Datan und Awiram bildeten die eine Gruppe, und „250 Israeliten, die in der Gemeinde Rang und Namen hatten und Mitglieder der Repräsentantenversammlung waren“, die andere. Auch sie hatten Grund zur Klage: Die Rubeniter waren darüber verärgert, dass sie als Nachkommen von Jakobs Erstgeborenen keine besondere Führungsrolle hatten. Nach Ibn Esra waren die 250 „Männer von Rang“ darüber erbost, dass nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb die Führungsrolle der Erstgeborenen eines jeden Stammes auf den Stamm Levi allein übergegangen war.

 

Sie bildeten eine unheilige Allianz, die zum Scheitern verurteilt war, da ihre Ansprüche im Widerspruch zueinander standen: Hätte Korach sein Ziel, Hohepriester zu werden, erreicht, wären die Rubeniter und die „Männer von Rang“ enttäuscht gewesen. Hätten wiederum die Rubeniter gewonnen, hätten sich Korach und die „Männer von Rang“ entrechtet gefühlt. Hätten sich die „Männer von Rang“ durchgesetzt, wären Korach und die Rubeniter unzufrieden geblieben. Die ungeordnete, bruchstückhafte Abfolge der Erzählung in diesem Kapitel ist ein Fall, bei dem der Stil den Inhalt widerspiegelt. Es handelte sich um eine ungeordnete, konfuse Rebellion, deren Protagonisten nur in ihrem Wunsch vereint waren, die bestehende Leitung zu stürzen.

 

Doch nichts von alledem beunruhigte Moses. Was ihn frustrierte, war etwas ganz anderes: die Worte von Datan und Awiram:

 

Reicht es nicht, dass ihr uns aus einem Land, in dem Milch und Honig fließt, herausgebracht habt, um uns in der Wüste zu töten, und jetzt wollt ihr auch noch über uns herrschen! Mehr noch: Du hast uns nicht in ein Land gebracht, in dem Milch und Honig fließen, und uns auch kein Erbe mit Feldern und Weinbergen gegeben. Glaubst du, dass du uns etwas vorgaukeln kannst? Wir werden bestimmt nicht kommen!“ (Num. 16:13-14).

 

Die ungeheure Unwahrheit ihrer Behauptung, dass Ägypten, wo die Israeliten in der Versklavung lebten und Gott um Rettung anflehten, ein Land sei „in dem Milch und Honig fließt“, war für Moses der springende Punkt.

 

Was ist hier los? Die Weisen definierten es in einer ihrer wohl berühmtesten Aussagen:

 

Jeder Streit, der um des Himmels willen geführt wird, ist von bleibendem Wert; aber jeder Streit, der nicht um des Himmels willen geführt wird, ist nicht von bleibendem Wert. Was ist ein Beispiel für einen Streit um des Himmels willen? Der Streit zwischen Hillel und Schamai. Und was ist ein Fall eines Streites, der nicht um des Himmels willen geführt wurde? Der Streit von Korach und seiner ganzen Gemeinschaft“ (Mischna Awot 5:21).

 

Die Rabbiner zogen aus Korachs Aufbegehren nicht den Schluss, dass Streit grundsätzlich falsch ist, dass Leiter Anspruch auf bedingungslosen Gehorsam haben, und der höchste Wert im Judentum – wie in manchen Religionen – Unterwerfung sei. Ganz im Gegenteil: Die Debatte ist das Lebenselixier des Judentums, solange sie richtig motiviert ist und im Wesentlichen konstruktive Ziele verfolgt.

 

Das Judentum ist ein einzigartiges Phänomen: eine Zivilisation, deren kanonische Texte allesamt Anthologien von Debatten sind. Im Tanach streiten die Helden des Glaubens – Abraham, Moses, Jeremia, Hiob – mit Gott. Der Midrasch basiert auf der Prämisse, dass es „siebzig Facetten“ – siebzig legitime Interpretationen – der Tora gibt. Die Mischna ist weitgehend auf dem Muster „Rabbi X sagt dies, Rabbi Y sagt das“ aufgebaut. Der Talmud, weit davon entfernt, diese Argumente zu lösen, vertieft sie in der Regel noch erheblich. Im Judentum ist das Argumentieren etwas Heiliges, der kontinuierliche innere Dialog des jüdischen Volkes, wenn es über sein Schicksal und die Anforderungen seines Glaubens reflekiert.

 

Worin unterscheidet sich nun der Disput von Korach und seinen Mitverschwörern von dem der Schulen von Hillel und Schamai? Rabbejnu Jonas Erklärung ist einfach: Ein Streit, der um des Himmels willen geführt wird, ist ein Streit, bei dem es um Wahrheit geht. Bei einem Streit, der nicht um des Himmels willen geführt wird, geht es um Macht.

 

Der Unterschied ist immens. Wenn ich in einem Wettstreit um Macht unterliege, verliere ich. Doch auch wenn ich gewinne, verliere ich, denn indem ich meine Gegner herabsetze, habe ich mich selbst herabgesetzt. Streite ich jedoch um der Wahrheit willen, dann gewinne ich, wenn ich gewinne. Aber auch wenn ich unterliege, gewinne ich, denn von der Wahrheit besiegt zu werden, ist die einzige Niederlage, die zugleich ein Sieg ist: Ich werde um etwas bereichert. Ich lerne etwas, das mir vorher nicht bekannt war.

 

Für Moses hätte die Bestätigung nicht klarer sein können als eben durch das Wunder, um das er bat und das ihm gewährt wurde: dass sich die Erde öffnete und seine Gegner verschlang. Doch wurde nicht nur dem Streit damit kein Ende gesetzt, dies schadete auch dem Respekt, der Moses entgegengebracht wurde:

 

Am nächsten Tag murrte die ganze israelitische Gemeinde gegen Moses und Aaron. ,Ihr habt das Volk des Ewigen getötet‘, sagten sie“ (Num. 17:6).

 

Die bloße Tatsache, dass Moses sich genötigt sah, Gewalt anzuwenden, war ein Zeichen dafür, dass er auf die Ebene der Aufständischen herabgezogen worden war. So geschieht es, wenn es um Macht und nicht um Wahrheit geht.

 

Eine der Nachwirkungen des „Marxismus“, die in Bewegungen wie der Postmoderne und dem Postkolonialismus fortbestehen, ist die Vorstellung, dass es keine absolute Wahrheit gibt. Es gibt nur Macht. Der vorherrschende „Diskurs“ in einer Gesellschaft ist nicht Ausdruck dessen, wie die Dinge sind, sondern die Art und Weise, wie die herrschende Macht (der Hegemon) die Dinge haben möchte. Alle Realität ist „sozial konstruiert“, um die Interessen der einen oder anderen Gruppe zu fördern. Das Ergebnis ist eine „Hermeneutik des Verdachts“, bei der wir niemandem mehr zuhören, sondern nur noch fragen, welche Interessen er verfolgt. Die Wahrheit sei nur die Maske, hinter der sich das Streben nach Macht verbirgt. Um eine „koloniale“ Macht zu stürzen, muss man seinen eigenen „Diskurs“, seine eigene „Geschichte“ erfinden, wobei es keine Rolle spielt, ob die dafür vorgebrachten Argumente wahr oder falsch sind. Wichtig sei nur, dass die Menschen sie glauben.

 

Das ist es, was derzeit in der Kampagne gegen Israel an den Universitäten in der ganzen Welt und insbesondere in der BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) geschieht.[1] Wie der Aufstand von Korach bringt sie Menschen zusammen, die sonst nichts gemeinsam haben. Die einen gehören der extremen Linken an, die anderen der extremen Rechten; einige sind Globalisierungsgegner, während andere wirklich über die Notlage der „Palästinenser“ besorgt sind.

 

Hinter allem stehen jedoch Menschen, die aus theologischen und politischen Gründen gegen die Existenz Israels in jeglichen Grenzen sind und sich gleichermaßen gegen Demokratie, Redefreiheit, Informationsfreiheit, Religionsfreiheit, Menschenrechte und die Unantastbarkeit des Lebens wenden. Was sie eint, ist die Weigerung, den Befürwortern Israels eine faire Anhörung zu gewähren, und damit missachten sie das elementare Prinzip der Gerechtigkeit, das im Grundsatz des Römischen Rechts zum Ausdruck kommt: „Höre auch die andere Seite“.

 

Die eklatanten Unwahrheiten, die durch diese Bewegung mitunter verbreitet werden – dass Israel nicht der Geburtsort des jüdischen Volkes sei, dass es nie einen Tempel in Jerusalem gegeben habe, dass Israel eine „Kolonialmacht“ sei (Fremde, die in den Nahen Osten verpflanzt worden seien) – sie konkurrieren mit den Behauptungen von Datan und Awiram - dass Ägypten ein Land sei, das von Milch und Honig fließt, und dass Moses das Volk nur herausgeführt habe, um es in der Wüste zu töten. Warum sich um die Wahrheit kümmern, wenn nur Macht zählt? So lebt der Geist von Korach fort.

 

All das stimmt traurig, denn es widerspricht dem Grundprinzip der Universität als Ort der gemeinsamen Suche nach der Wahrheit. [War sie das in der Regel? Oder wann wurde der Schwerpunkt zur „Meinungsmache“ verschoben? Und worin bestehen vor allem die Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaften?]

 

Es trägt auch wenig zum Frieden im Nahen Osten, zur Zukunft der „Palästinenser“ oder zu Freiheit, Demokratie und Menschenrechten bei. Es geht um reale und grundlegende Fragen, denen sich beide Seiten mit Ehrlichkeit und Mut stellen müssen. Doch wenn die Wahrheit dem Streben nach Macht geopfert wird, wird nichts erreicht – der Weg Korachs im Wandel der Zeiten.

 


 

[1] Zur Erinnerung an den Kontext: Dieser Beitrag wurde von Rabbi Sacks im Jahr 2015 verfasst, doch seine zeitlosen Worte geben uns weiterhin Anlass, über solche Bewegungen und ihre erheblichen Auswirkungen nachzudenken.