Mehr Schall als Rauch
(ordonline.de – Paraschat BaMidbar)
Warum Mosche jeden Einzelnen aus dem Volk mit Namen zählte
Das vierte Buch Moses, Bamidbar, handelt, wie der Name bereits verrät, von der Wüste. Hier wird die 40-jährige Wanderung nach Kanaan beschrieben, während der sich die Israeliten zu einem Volk formten.
Die Wüste, ein Ort der Öde, war wie ein Lernlabor. Ohne den langen Aufenthalt in der Wüste hätten die Menschen nie die neue religiöse und nationale Einstellung entwickeln können. Die Israeliten verließen Ägypten als Sklaven. Am Nil herrschte kein Monotheismus, Schwache hatten keine Rechte. Aber auch die Zukunft, die das Volk Israel in Kanaan erwartete, war von Götzen geprägt und stellte eine Gefahr für das Volk dar.
Die Wüste diente als neutraler Ort, an dem die Israeliten ihre von Unterdrückung geprägte Vergangenheit zurücklassen und sich auf eine neue Zukunft in Freiheit vorbereiten konnten. In diesem Zeitraum wurde eine neue Kultur und Religion entwickelt. Es entstanden Zivilrechtsgesetze und ein neuer Lebensweg. Gerade in dieser Zeit, in der es keine äußerlichen Einwirkungen gab, konnte sich das Volk entwickeln.
Klassen
Unsere Weisen sagen: „Die Tora wurde uns in der Wüste überreicht, um die Neutralität zu gewährleisten und zu wahren. Alle, die die Tora empfingen, sollten einen gleichwertigen Anteil an ihr besitzen. Es sollte in dieser Gesellschaft nicht dazu kommen, dass sich Klassen entwickeln.“
Nun lesen wir gleich zu Beginn des 4. Buches Moses: „Und der Ewige (HaSchem) redete mit Mose in der Wüste Sinai, im Stiftszelt, am ersten des zweiten Monats im zweiten Jahre nach dem Auszug aus dem Lande Ägypten und sprach: Nehmet die Zahl der ganzen Gemeinde der Kinder Israels nach Familien und Stammhäusern auf, indem ihr die Namen zählt“ (Bamidbar: 1, 1-2).
Zählung
Ist G’tt die Zahl der Menschen, die er aus Ägypten führte, nicht bekannt? Und wenn er die genaue Zahl erfahren würde, was sollte sich dadurch ändern? Raschi (1040–1105) gibt uns in seinem Torakommentar darauf eine Antwort: „Am ersten des Monats, weil sie vor Ihm geliebt sind, zählt er sie in jeder Stunde, als sie aus Mizrajim zogen, zählt er sie, die durch das (Goldene) Kalb von ihnen gefallen waren, zählt er sie, um die Zahl der Übriggebliebenen zu wissen. Als er kam, seine Schechina auf ihnen ruhen zu lassen, zählte er sie. Am ersten Nissan wurde die Wohnung (das Stiftszelt) aufgerichtet, und am ersten Ijar zählte er sie.“
Raschis Auslegung zeigt, dass es bei der Zählung nicht darum ging, die genaue Anzahl der Menschen zu erfassen. Jeder kam als Sklave aus Ägypten. G’tt, so steht es hier, liebte Sein Volk, Er liebte jeden Einzelnen. Die Zählung diente der Wertschätzung jedes Einzelnen in der Gesamtheit.
Das ist der erste Wert, der jedes Einzelnen in der Gesellschaft. Er ist eine Basis für die Entstehung eines Volkes und bildet den Grundstein für die Eigenverantwortung, aber auch für die Verantwortung gegenüber dem Nächsten. Nur so kann ein Mensch in die Zukunft gehen.
Wurzeln
Eine weitere Reha-Maßnahme, damit sich das Volk gänzlich von der Sklaverei entfernt, zeigt uns die Art der Zählung – es ist eine Zählung nach Familien. Jeder Mensch kann im Idealfall auf seine Wurzeln zurückblicken, er hat eine Geschichte und ist ein Teil davon.
Einem Sklaven war dies nicht vergönnt, er war nie sein eigener Herr. Doch jetzt wird zwischen jedem Einzelnen und der Gruppe eine Verbindung hergestellt, wird die Familie gezählt. Dadurch entsteht Identität. Ein Volk gibt es mit einer Familie.
Gerade im Judentum hat die Familie höchste Priorität. Nur durch diese kleine Einheit kann man Werte von Generation zu Generation weitergeben. Bereits im Schma Jisrael, das jeden Tag dreimal gesagt wird, steht: „Schärfe es deinen Kindern ein.“
Ein weiteres Element, um die Persönlichkeit des Einzelnen zu stärken, war das Schlüsselwort Schemot (Namen), so wie es im vorgestellten Vers steht. Zum genauen Ablauf der Zählung gibt uns Malbim, Rabbiner Leibusch ben Jechiel Michael Weiser (1809–1879), folgende Erklärung: Die Namen jedes Einzelnen wurden zuerst aufgeschrieben und anschließend ausgezählt.
In der Tora wird auf das Wort Schemot großen Wert gelegt. Denn daraus wird geschlossen, dass bei der Zählung jeder Einzelne namentlich aufgenommen und nicht nur als Nummer behandelt wurde. Dies ist ein weiterer Schritt, das Selbstbewusstsein jedes Menschen im Volk Israel zu stärken.
Liebe
Das Wort Schemot steht auch im gleichnamigen zweiten Buch Moses gleich zu Beginn: „Dies sind die Namen der Kinder Israel, die nach Ägypten kamen …, ein jeder mit seiner Familie: Reuven, Schimon, Levi …“ Dazu erklärt Raschi: „Obschon er ihre Namen bereits bei ihrem Leben aufgezählt hat, zählt er sie wieder nach ihrem Tod, um die Liebe zu ihnen zu bekunden.“
Die Weisen sagen, die Liebe G’ttes zu seinem Volk war so stark, weil die Kinder Israels während der 400 Jahre, die sie in Ägypten lebten, an ihren Namen festhielten. Der Name symbolisiert Identität, die Verbindung zu einem Volk. Während der gesamten Zeit der Versklavung verloren diese Menschen die Zugehörigkeit zu ihrem Volk nicht. Der Prozess der Identitätsbildung eines jeden Einzelnen zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Zeit der Wüstenwanderung.
So lesen wir: „Und der Ewige sprach zu Mosche und Aharon: »Ein jeder von den Kindern Israel soll bei seiner Fahne, bei dem Zeichen seines Stammhauses, lagern, in einiger Entfernung sollen sie rings um das Stiftszelt lagern.«“ (Bamidbar 2:1-2)
Selbstständigkeit
Jeder Stamm hatte eine Fahne mit seinem Symbol, das besondere Eigenschaften darstellte. Obwohl die Israeliten insgesamt ein Volk bildeten, hatte jeder eine gewisse Selbstständigkeit und konnte seine Eigenschaften mit dieser Fahne öffentlich machen.
Sich zu integrieren, bedeutet nicht, die eigene Identität aufzugeben, sondern jeder soll sich in die Gesellschaft einbringen und versuchen, das Eigene mit der Gesellschaft zu harmonisieren. Es muss ein Ausgleich zwischen den Bedürfnissen jedes Einzelnen und der Gesellschaft geschaffen werden.
Allerdings gibt es eine Bedingung: Das Ziel der Gesellschaft muss eindeutig sein. So war es damals. Im Zentrum der Gesellschaft standen das Stiftszelt und die Tora. Bis heute haben wir unterschiedliche Systeme. In einer Demokratie kann der Wert des Einzelnen den Wert der Gesamtheit übersteigen, unter einem totalitären Regime steht die Gruppe über dem Wert des Einzelnen.
Die Tora zeigt uns, dass es unser Ziel sein muss, einen Ausgleich zwischen den individuellen Bedürfnissen und denen der Gesellschaft herzustellen, damit nicht eines auf Kosten des anderen zurückbleibt.