Feuer – heilig und unheilig
(ordonline.de – Paraschat Schmini)
Der Schock sitzt tief. Über mehrere Wochen und viele Kapitel – das längste Vorspiel in der Tora – haben wir von den Vorbereitungen für den Augenblick gelesen, da Gott seine Gegenwart inmitten des Volkes ruhen lassen würde. Fünf Wochenabschnitte (Teruma, Tezawe, Ki Tissa, Wajakhel und Pekudej) beschreiben die Anweisungen zum Bau des Heiligtums. Zwei weitere Parschijot (Wajikra und Zaw) beschreiben die Opfergaben, die dort dargebracht werden sollen. Nun ist alles bereit. Sieben Tage lang sind die Priester (Aaron und seine Söhne) in ihr Amt eingeweiht worden. Es folgt der achte Tag, an dem der Dienst im Mischkan beginnt.
Das gesamte Volk hat seinen Teil zum Bau dessen beigetragen, was die sichtbare Stätte der göttlichen Gegenwart auf Erden werden soll. Mit einem einfachen, bewegenden Vers findet das Drama seinen Höhepunkt: „Moses und Aaron gingen in das Stiftzelt, und als sie herauskamen, segneten sie das Volk. Da offenbarte sich die Herrlichkeit Gottes dem ganzen Volk“ (Lev. 9:23).
Und just, da wir meinen, die Erzählung sei hier zu Ende, ereignet sich eine erschreckende Szene: „Die Söhne Aarons, Nadab und Abihu, nahmen ihre Räuchergefäße, taten Feuer hinein und fügten Weihrauch hinzu; und sie brachten ungenehmigt Feuer vor Gott dar, das Er ihnen nicht befohlen hatte. Da ging eine Feuerflamme von Gott aus und verzehrte sie, so dass sie vor Gott starben. Da sagte Moses zu Aaron: „Das ist es, wovon Gott sprach, als Er sagte: Denen, die sich Mir nähern, erweise Ich mich heilig und vor allem Volk zeige Ich mich herrlich“ (Lev. 10:1-3).
Mit dem Tod der beiden ältesten Söhne von Aaron geriet die Feier zur Tragödie. Unsere Weisen und Kommentatoren geben hierzu eine Vielzahl von Erklärungen: Nadab und Abihu starben, weil sie das Allerheiligste betreten hatten,[1] nicht die vorgeschriebenen Gewänder getragen trugen,[2] Feuer aus der Küche und nicht vom Altar genommen hatten,[3] weder Moses und Aaron,[4] noch sich gegenseitig konsultiert hatten.[5] Einige meinen, sie hätten sich der Hybris schuldig gemacht. Sie hätten sich nicht gedulden können, um selbst einmal Führungspositionen zu erlangen,[6] und sie hätten nie geheiratet, weil sie sich über dergleichen erhaben fühlten.[7] Andere wiederum sehen ihren Tod als verspätete Strafe für eine frühere Sünde, als sie am Berg Sinai in der Gegenwart Gottes „aßen und tranken“ (Exod. 24:9-11).
Diese Interpretationen folgen einer genauen Lesart der vier Stellen in der Tora, an denen der Tod von Nadab und Abihu erwähnt wird (Lev. 10:2, 16:1, Num. 3:4 und 26:61), ebenso wie dem Hinweis auf ihre Anwesenheit am Berge Sinai. Jede dieser Stellen ist eine tiefgründige Betrachtung über die Gefahren eines übermäßigen Enthusiasmus im religiösen Leben.
Die einfachste Erklärung ist jedoch jene, die in der Tora selbst steht: Nadab und Abihu starben, weil sie ein ungenehmigtes, wörtlich „fremdes“ Feuer darbrachten, das heißt, „welches Gott ihnen nicht befohlen hatte“. Um die Gewichtigkeit dieser Tatsache zu verstehen, müssen wir zu den wichtigen Grundsätzen zurückkehren und uns die Bedeutung von kadosch, „heilig“, und damit auch vom Mikdasch als dem Haus des Heiligen vergegenwärtigen.
Das Heilige ist der Teil von Zeit und Raum, den Gott für Seine Gegenwart vorbehalten hat. Schöpfung beinhaltet Verschleierung. Das Wort Olam, Universum, ist semantisch mit dem Wort ne’elam, „verborgen“, verbunden. Um der Menschheit einige Seiner eigenen schöpferischen Kräfte zu geben – den Gebrauch der Sprache, um zu denken, zu kommunizieren, zu verstehen, sich zukünftige Alternativen vorzustellen und zwischen ihnen zu wählen -, muss Gott mehr tun, als den Homo sapiens in die Welt zu setzen. Er muss sich zurücknehmen (was die Kabbalisten Zimzum nennen), um Raum für menschliches Handeln zu schaffen. In keinem einzigen Akt zeigen sich die Liebe und die Großzügigkeit, die der Schöpfung innewohnen, deutlicher. Gott, wie Er uns in der Tora begegnet, ist gleich den Eltern, die wissen, dass sie sich zurückhalten, loslassen müssen, nicht eingreifen dürfen, damit ihre Kinder verantwortungsvoll und reif werden können.
Aber es gibt eine Grenze. Sich vollkommen zurückzunehmen, würde bedeuten, die Welt und Seine eigenen Kinder im Stich zu lassen. Das kann und will Gott nicht tun. Wie kann Gott dann einen Hauch Seiner Gegenwart auf der Erde hinterlassen?
Die biblische Antwort ist nicht philosophisch. Eine philosophische Erklärung (ich denke hier an den Mainstream der westlichen Philosophie, beginnend mit Platon in der Antike und mit Descartes in der Moderne) wäre eine, die universell gilt – das heißt zu allen Zeiten, an allen Orten. Aber es gibt keine Antwort, die für alle Zeiten und Orte gilt. Deshalb kann die Philosophie den scheinbaren Widerspruch zwischen der göttlichen Schöpfung und der Freiheit des menschlichen Willens oder zwischen der göttlichen Gegenwart und der empirischen (beobachtbaren) Welt, in der wir abwägen, wählen und handeln, nicht verstehen und wird es auch nie können.
Das jüdische Denken verläuft hier entgegen dem der Philosophie. Es besteht darauf, dass Wahrheiten gerade in bestimmten Zeiten und Orten verkörpert werden. Es gibt heilige Zeiten (der siebte Tag, der siebte Monat, das siebte Jahr und das Erlassjahr, Ende der sieben Jahreszyklen). Es gibt heilige Menschen (die Kinder Israels insgesamt; unter ihnen die Leviten, und unter denen wiederum die Kohanim). Und es gibt heilige Orte (letztlich Israel, darin Jerusalem, darin der Tempel, in der Wüste waren diese der Mischkan, das Heiligtum und das Allerheiligste).
Das Heilige ist der Punkt in Zeit und Raum, in dem die Gegenwart Gottes durch des Menschen Zimzum – Selbstverzicht – erfahren wird. So wie Gott durch einen Akt der Selbstbeschränkung Raum für den Menschen macht, so schafft der Mensch durch einen Akt der Selbstbeschränkung Raum für Gott. Das Heilige ist dort, wo wir Gott als uneingeschränkte Realität erfahren. Nicht zufällig, sondern wesentlich kann dies ausschließlich durch die völlige Aufgabe des menschlichen Willens und der menschlichen Initiative geschehen. Das meint nicht, dass Gott den menschlichen Willen und die menschliche Initiative nicht schätzen würde. Ganz im Gegenteil: Gott hat den Menschen befähigt, Ihm als Sein „Partner im Schöpfungswerk“ zu dienen.
Um jedoch Gottes Absicht zu entsprechen, muss es Zeiten und Orte geben, an denen die Menschheit die Realität des Göttlichen erfährt. Diese Zeiten und Orte erfordern absoluten Gehorsam. Der grundlegendste Fehler – der Fehler von Nadab und Abihu – besteht darin, die Kräfte, die zum menschlichen Umgang mit der Welt gehören, auf die Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen zu übertragen. Hätten Nadab und Abihu ihre Eigeninitiative genutzt, um Böses und Ungerechtigkeit zu bekämpfen, wären sie Helden gewesen. Ihr Irrtum war, sie im Bereich des Heiligen zu nutzen. Sie behaupteten ihre eigene Präsenz in der absoluten Gegenwart Gottes: ein Widerspruch in sich. Deshalb sind sie gestorben.
Wir irren, wenn wir uns Gott als launisch, eifersüchtig und zornig vorstellen: ein Mythos, den das frühe Christentum verbreitet hat, um sich selbst als Religion der Liebe zu definieren und den grausamen, harten und vergeltenden Gott des „Alten Testaments“ abzulösen. Wenn die Tora selbst sich einer solchen Sprache bedient, „spricht sie in der Sprache der Menschen“ (Berachot 31a) – das heißt in Begriffen, die für Menschen verständlich sind.
In Wahrheit ist der Tanach durch und durch eine Liebesgeschichte – die leidenschaftliche Liebe des Schöpfers zu seinen Geschöpfen, die alle Enttäuschungen und Vertrauensbrüche der menschlichen Geschichte überdauert. Gott will, dass wir Ihm begegnen, nicht weil er die Menschheit braucht, sondern weil wir Ihn brauchen. Wenn die Zivilisation von Liebe, Gerechtigkeit und dem Respekt vor der Unversehrtheit der Schöpfung geleitet sein soll, muss es Momente geben, in denen wir uns über das „Ich“ erheben und der Fülle des Seins in all seiner Herrlichkeit begegnen.
Das ist die Funktion des Heiligen – der Punkt, an dem das „Ich bin“ in der überwältigenden Gegenwart des „Es ist“ verstummt. Das ist es, was Nadab und Abihu vergessen hatten – dass das Betreten des heiligen Raums oder der heiligen Zeit Demut mit dem ganzen Sein erfordert, den völligen Verzicht auf menschliche Initiative und menschliches Begehren.
Die Bedeutung dieser Tatsache kann gar nicht überschätzt werden. Wenn wir den Willen Gottes mit unserem Willen verwechseln, verwandeln wir das Heilige, die Quelle des Lebens, in etwas Unheiliges und in eine Quelle des Todes. Das klassische Beispiel dafür ist der „Heilige Krieg“, der Dschihad, der Kreuzzug – imperialistische Bestrebungen (den Wunsch, über andere Menschen zu herrschen) werden mit dem Mantel der Heiligkeit umhüllt, als ob Eroberung und Zwangsbekehrung Gottes Wille wären. [Wesentliche Strömungen des Christentums und des Islams sehen dies leider genau so, mindestens gemäß ihrer Lehren.]
Die Geschichte von Nadab und Abihu erinnert uns erneut an die Warnung, die erstmals in den Tagen von Kain und Abel ausgesprochen wurde. Der erste Akt der Anbetung führte zum ersten Mord. Wie die Kernspaltung erzeugt die religiöse Anbetung Kraft, die gutartig, aber auch sehr gefährlich sein kann.
Die Begebenheit mit Nadab und Abihu erzählt von drei verschiedenen Feuern. Da ist zunächst das Feuer des Himmels: „Feuer ging aus vor Gott und verzehrte das Brandopfer“ (Lev. 9:24). Dies war das Feuer der Wohlgefallens, in dem sich der Dienst im Heiligtum vollzog.
Dann kam das „unerlaubte Feuer“, das von den beiden Söhnen dargebracht wurde. „Die Söhne Aarons, Nadab und Abihu, nahmen ihre Räuchergefäße, taten Feuer hinein und fügten Weihrauch hinzu; und sie brachten ungenehmigt Feuer vor Gott dar, das Er ihnen nicht befohlen hatte“ (Lev. 10:1).
Dann gab es das erwidernde Feuer vom Himmel: „Eine Feuerflamme ging vor Gott aus und verzehrte sie, so dass sie vor Gott starben“ (Lev. 10:2).
Die Botschaft ist einfach und überaus ernst: Religion ist nicht das, was die europäische Aufklärung als ihre Zukunft prophezeite: stumm, nebensächlich und sanft. Sie ist Feuer – und wie Feuer wärmt sie, aber kann auch verbrennen. Unsere Aufgabe ist es, die Flamme zu hüten.
[1] Midrasch Tanchuma (Buber), Paraschat Acharej Mot 7.
[2] Wajikra Raba 20:9.
[3] Midrasch Tanchuma, ad loc.
[4] Jalkut Schimoni, I:524.
[5] Midrasch Tanchuma, a.a.O.
[6] Agada (Buber), Wajikra 10.
[7] Wajikra Raba 20:10.