Kann es Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit geben?

(ordonline.de – Paraschat Ki Tissa)


 

Auf dem Höhepunkt des Dramas um das Goldene Kalb spielt sich eine eindringliche und mysteriöse Szene ab. Moses gelang es, dem Volk Gottes Vergebung zu sichern. Jetzt aber, auf dem Berge Sinai, geht er noch einen weiteren Schritt. Er bittet HaSchem, mit dem Volk zu sein. Er bittet Ihn: „Lehre mich Deine Wege.“ Und: „Lass mich Deine Herrlichkeit sehen.“ (Exod. 33:13.18).

 

Gott erwidert: „Ich will alle Meine Güte vor dir vorüberziehen lassen und Meinen Namen, HaSchem, vor dir verkünden, und wie Ich gnädig bin gegen den, den Ich begnadigen will, und barmherzig gegen den, dessen Ich Mich erbarmen will.“ „Aber“, so sagte Er, „du vermagst nicht Mein Angesicht zu schauen, denn kein Mensch kann Mich sehen, so lange er lebt“ (Exod. 33:20).

 

Dann stellt Gott Moses in eine Felsspalte und sagt ihm, du kannst „Meinen Rücken“ sehen, aber nicht das Angesicht, und Moses hört Gott diese Worte sagen: „Gott, der Ewige, barmherzig und gnädig, langmütig, reich an Liebe und Treue, der Tausenden seine Liebe bewahrt und Ungerechtigkeit, Aufruhr und Sünde vergibt. Und doch lässt er die Schuldigen nicht ungestraft“ (Exod. 34:6-7). Dieser Abschnitt wurde als die „Dreizehn Eigenschaften der Barmherzigkeit Gottes“ bekannt.

 

Unsere Weisen sahen in dieser Episode den Moment, da Gott Moses und durch ihn alle zukünftigen Generationen lehrte, wie man betet, um Sühne für eine Sünde zu erlangen (Rosch Haschana 17b). Moses selbst bediente sich dieser Worte mit leichter Abwandlung in der bald folgenden Notlage: dem Dilemma mit den Kundschaftern. Schließlich bildeten sie die Grundlage der besonderen Gebete, die uns als Selichot, Bußgebete, bekannt sind. Es war, als ob Gott sich durch diese Selbstdefinition verpflichtete, den Reumütigen jeder Generation zu vergeben.[1] Gott ist barmherzig und weilt in Liebe und Vergebung. Dies ist ein wesentliches Element des jüdischen Glaubens.

 

Aber es gibt einen Vorbehalt. Gott fügt hinzu: Doch lässt er die Schuldigen nicht ungestraft“. Eine weitere Klausel, die besagt, dass die Sünden der Eltern die Kinder heimsuchen, muss gesondert betrachtet werden und soll hier nicht unser Thema sein. Dieser Vorbehalt sagt uns, dass es sehr wohl Vergebung, aber auch Bestrafung gibt, Barmherzigkeit und dennoch Gerechtigkeit.

 

Weshalb ist das so? Warum muss es sowohl Gerechtigkeit als auch Barmherzigkeit, Strafe als auch Vergebung geben? Die Weisen sagten: „Als Gott das Universum erschuf, tat Er dies unter dem Aspekt der Gerechtigkeit, sah dann aber, dass dies allein nicht von Bestand sein würde. Was also tat Gott? Er fügte der Gerechtigkeit Barmherzigkeit hinzu und schuf die Welt“ (Siehe Raschi zu Genesis 1:1).

 

Diese Aussage wirft wiederum die nämliche Frage auf. Warum hat Gott die Gerechtigkeit nicht ganz aufgegeben? Warum ist Vergebung allein nicht genug? Einige neuere faszinierende Forschungen in verschiedenen Bereichen, von der Moralphilosophie, über die Spieltheorie bis zur Umweltethik, liefern uns eine außergewöhnliche und unerwartete Antwort.

 

Den besten Anhaltspunkt liefert uns Garrett Hardings berühmter Aufsatz aus dem Jahr 1968 über „die Tragödie der Allmende“.[2] Er fordert uns auf, uns ein Gut vorzustellen, das keinen bestimmten Eigentümer hat: Weideland, das allen gehört (die Allmende), oder das Meer und die Fische, die es enthält. Das Gut bietet vielen Menschen, den örtlichen Bauern oder Fischern, eine Lebensgrundlage. Doch irgendwann zieht es zu viele Menschen an. Es kommt zu einer Überweidung oder Überfischung, und die Ressourcen erschöpfen sich: Das Weideland droht zu veröden, die Fische sind vom Aussterben bedroht.[3]

 

Was geschieht dann? Das Gemeinwohl verlangt, dass ein jeder sich von jetzt an in Zurückhaltung übe. Die Zahl der Tiere, die auf die Weide gelassen werden, oder die Fangmenge der Fische muss begrenzt werden. Doch einige Menschen sind versucht, sich dem zu widersetzen. Sie weiden und fischen weiterhin viel zu viel. Sie rechtfertigen ihr Verhalten damit, dass der Gewinn für sie selbst groß, der Verlust für andere, da er durch viele geteilt wird, aber gering sei. Das Eigeninteresse hat hier Vorrang vor dem Gemeinwohl, doch wenn mehr und mehr Menschen diesem Instinkt folgen, kommt es zur Katastrophe.

 

Dies ist die Tragödie der Allmende, die erklärt, wie es zu Umweltkatastrophen und anderem Unglück kommt. Das Problem ist der Trittbrettfahrer, derjenige, der nur die eigenen Interessen verfolgt und nicht bereit ist, seinen Anteil an den Kosten des Gemeinwohls zu leisten. Wegen der Tragweite derartiger Situationen in Bezug auf viele aktuelle Probleme haben sich mathematische Biologen wie Anatol Rapoport und Martin Nowak und Verhaltensökonomen wie Daniel Kahneman und der verstorbene Amos Tversky sehr intensiv damit beschäftigt.[4]

 

So haben sie unter anderem im Experiment Situationen erzeugt, die diese Art von Problemen simulieren. Hier ein Beispiel: Vier Spieler erhalten jeweils acht Dollar. Ihnen wird gesagt, sie könnten so viel oder so wenig sie wollen in einen gemeinsamen Fonds investieren. Das Forschungsteam sammelt dann die Beiträge ein, addiert sie, fügt 50% hinzu (das entspricht dem Gewinn, den der Bauer oder Fischer durch die Nutzung der Gemeinschaftsgüter erzielt hätte) und verteilt die Summe gleichmäßig unter allen vier Spielern. Wenn also jeder die vollen acht Dollar in den Fonds eingezahlt hat, erhält jeder am Ende 12 Dollar. Hat jedoch ein Spieler nichts beigesteuert, sind im Fonds nur 24 Dollar, was mit 50% addiert 36 Dollar ergibt. Bei gleichmäßiger Verteilung bedeutet dies, dass jeder neun Dollar erhält. Drei haben also einen Dollar gewonnen, der vierte aber, der Trittbrettfahrer, neun Dollar.

 

Dies ist jedoch keine stabile Situation. Wird das Ganze wiederholt gespielt, merken die Teilnehmer, dass es unter ihnen einen Trittbrettfahrer gibt, auch wenn das Experiment so aufgebaut ist, dass sie nicht wissen können, wer derjenige ist. In der Regel folgt dann eine von zwei Möglichkeiten: Entweder hören alle auf, zum Fonds (also zum Gemeinwohl) beizutragen, oder sie beschließen, den Trittbrettfahrer zu bestrafen, sollte sich ihnen die Gelegenheit dazu bieten. Oftmals sind die Menschen darauf versessen, den Trittbrettfahrer zu bestrafen, selbst wenn dies bedeutet, dass sie dabei verlieren – ein Phänomen, das gelegentlich „altruistische Bestrafung“ genannt wird.

 

Bei einigen Tests wurden die Teilnehmer an MRT-Geräte angeschlossen, um zu herauszufinden, welche Gehirnbereiche durch solche Spiele aktiviert werden. Interessanterweise ist die altruistische Bestrafung mit den Lustzentren im Gehirn verbunden. Kahneman drückt es so aus: „Es scheint, dass diese Weise der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung und der Regeln der Fairness für die Menschen an sich eine Belohnung darstellt. Altruistische Bestrafung könnte durchaus das Bindemittel sein, das eine Gesellschaft zusammenhält.“[5]

 

Doch dies ist keine glückliche Situation. Bestrafung ist für alle eine unangenehme Aussicht. Der Täter leidet, aber auch die Strafenden, die Zeit oder Mittel aufwenden müssen, die sie sonst für die Verbesserung des kollektiven Ergebnisses verwenden könnten. Kulturübergreifende Studien zeigen, dass Menschen aus Ländern, in denen Trittbrettfahren weit verbreitet ist, die schärfsten Strafen verabreichen. Gesellschaften, in denen es die meiste Korruption und den geringsten Gemeinsinn gibt, bestrafen am härtesten. Mit anderen Worten: Strafe ist das letzte Mittel.

 

Das bringt uns zur Religion: Eine ganze Reihe von Experimenten hat die Rolle religiöser Praktiken unter solchen Umständen beleuchtet. Es wurden Tests durchgeführt, bei denen die Teilnehmer die Möglichkeit hatten, durch Betrug zu gewinnen. Wurden die Teilnehmer, ohne einen offensichtlichen Zusammenhang zum Experiment, auf religiöse Gedanken gebracht – indem man ihnen beispielsweise Worte mit Bezug zu Gott zeigte oder sie an die Zehn Gebote erinnerte -, betrogen sie deutlich weniger.[6]

 

Besonders faszinierend bei solchen Tests ist, dass die Ergebnisse keinen Zusammenhang mit den vorhandenen Überzeugungen der Teilnehmer aufweisen. Der springende Punkt ist nicht der Glaube an Gott, sondern dass man vor dem Test an Gott erinnert wird. Dies mag der Grund sein, warum das tägliche Gebet und andere regelmäßige Rituale so wichtig sind. Was uns in Augenblicken der Versuchung beeinflusst, ist nicht so sehr der allem zugrundeliegende Glaube, sondern der Akt, uns diesen Glauben ins Bewusstsein zu rufen.

 

Von weitaus größerer Bedeutung sind jene Experimente, bei denen die Auswirkung verschiedener Denkweisen über Gott getestet wurden. Denken wir in erster Linie an Gottes Vergebung oder an die göttliche Gerechtigkeit und Bestrafung? Einige Strömungen innerhalb der großen Religionen betonen das eine, andere das andere. Es gibt jene, die vom Fegefeuer predigen und andere, die mit der stillen, leisen Stimme der Liebe sprechen. Was ist wirksamer?

 

So die Versuchspersonen Atheisten oder Agnostiker sind, macht es natürlich keinen Unterschied. Sie werden weder auf die eine noch auf die andere Weise beeinflusst. Bei den Gläubigen ist der Unterschied jedoch bedeutend. Diejenigen, die an einen strafenden Gott glauben, betrügen und stehlen weniger als diejenigen, die an einen vergebenden Gott glauben. Anschließend wurden Experimente durchgeführt, um zu ermitteln, wie sich Gläubige gegenüber Trittbrettfahrern in Situationen wie den oben beschriebenen, wo es um das Gemeinwohl geht, verhalten. Wären sie bereit, zu vergeben, oder würden sie die Trittbrettfahrer bestrafen, selbst wenn sich für sie daraus ein Nachteil ergebe.

 

Die Ergebnisse waren sehr aufschlussreich: Menschen, die an einen strafenden Gott glauben, bestrafen Menschen weniger als diejenigen, die an einen vergebenden Gott glauben.[7] Diejenigen, die glauben, dass Gott, wie es in der Tora heißt, „die Schuldigen nicht ungestraft lässt“, sind eher bereit, Gott die Bestrafung zu überlassen. Diejenigen, die sich auf die göttliche Vergebung konzentrieren, sind eher bereit, menschliche Vergeltung oder Rache zu üben.

 

Das Gleiche gilt für Gesellschaften als Ganzes. In diesem Fall verwendeten die Forscher Begriffe, die dem Judentum nicht ganz entsprechen: Sie verglichen die Länder anhand des prozentualen Anteils der Bevölkerung, der an „Himmel“ (besser: kommende gute Welt) und Hölle (besser: Auslöschung der Existenz) glaubt. „Die Länder in denen der Glaube an die Hölle (Bestrafung, dann Auslöschung der Existenz) am weitesten verbreitet und die Erwartung an den Himmel (kommende gute Welt) am geringsten ist, weisen die niedrigsten Kriminalitätsraten auf. Im Gegensatz dazu waren Länder, die die Gewichtung der Begriffe umkehrten, führend in der Kriminalität. Dieses Muster traf auf fast alle großen Glaubensrichtungen zu, einschließlich verschiedener christlicher, hinduistischer und synkretistischer Religionen, die eine Mischung aus mehreren Glaubenssystemen sind.“[8]

 

[Für weitere Ausführungen zur Hoffnung nach dem Tod verweise ich auf das „Glaubensverständnis“]

 

Diese Erkenntnis war so überraschend, dass man sich fragte: Warum gibt es dann Religionen, die eine göttliche Strafe herunterspielen? Azim Shariff lieferte die folgende Erklärung: „Während die Hölle (Bestrafung) vielleicht besser geeignet ist, die Menschen zu motivieren, gut zu sein, eignet sich der Himmel (kommende gute Welt) doch viel besser dazu, ihnen ein gutes Gefühl zu geben.“ Wenn eine Religion also darauf bedacht ist, neue Anhänger zu gewinnen, „ist es viel einfacher, eine Religion zu verkaufen, die ein göttliches Paradies verspricht, als eine, die den Gläubigen mit Feuer und Schwefel droht.“[9]

 

Jetzt wird klar, warum Gott in dem Moment, in dem Er Sein Erbarmen, Seine Gnade und Vergebung verkündet, darauf besteht, dass Er die Schuldigen jedoch nicht ungestraft lässt. Eine Welt ohne göttliche Gerechtigkeit wäre eine Welt, in der es mehr Ressentiments, Strafen und Verbrechen gäbe und weniger Gemeinsinn und Vergebung, selbst unter den Gläubigen. Je mehr wir der Überzeugung sind, dass Gott die Schuldigen bestraft, desto nachsichtiger werden wir selbst. Je weniger wir glauben, dass Gott die Schuldigen bestraft, desto nachtragender und strafender werden wir. Dies ist eine völlig kontraintuitive Wahrheit, die uns jedoch letztlich die tiefe Weisheit der Tora erkennen lässt, die uns hilft, eine humane und mitfühlende Gesellschaft zu schaffen.

 


 

[1] Der Talmud sagt in Rosch Haschana 17b, dass Gott auf der Grundlage dieser Worte einen Bund schloss und Sich verpflichtete, denen zu vergeben, die sich in ihrer Reue auf diese Eigenschaften berufen würden. Daher spielen sie eine zentrale Rolle in den Gebeten vor Rosch Haschana und Jom Kippur sowie an Jom Kippur selbst.

[2] Garrett Hardin, The Tragedy of the Commons (Vol. Science 162, 13. Dezember 1968, Nr. 3859), S. 1243-1248.

[3] Lange vor Garrett Hardin gab es eine alte chassidische Geschichte über ein Dorf, in dem die Bewohner gebeten wurden, eine bestimmte Menge Wein zu spenden, um ein großes Fass zu füllen, das sie dem König bei seinem bevorstehenden Besuch im Dorf zum Geschenk machen sollten. Jeder Dorfbewohner spendete heimlich nur Wasser anstelle von Wein, weil er sich einredete, dass eine so geringe Verdünnung in dem großen Geschenk nicht auffallen würde. Als der König eintraf, überreichten ihm die Dorfbewohner das Gefäß, er trank daraus und sagte: „Es ist nur einfaches Wasser!“ Vermutlich sind vielen Völkern ähnliche Geschichten überliefert. Dies ist im Wesentlichen die Tragödie der Allmende.

[4] Siehe Robert Axelrod, The Evolution of Cooperation (New York, Basic, 1984). Matt Ridley, The Origins of Virtue (Penguin, 1996). Daniel Kahneman, Thinking, Fast and Slow (Allen Lane, 2011). Martin Nowak und Roger Highfield, Super Cooperators: Evolution, Altruism and Human Behaviour or Why We Need Each Other to Succeed (Edinburgh, Canongate, 2011).

[5] Kahneman, Thinking, Fast and Slow, S. 308.

[6] Ara Norenzayan, Big Gods: How Religion Transformed Cooperation and Conflict (Princeton University Press, 2013), S. 34-35.

[7] Ibid., 44-47.

[8] Ibid., 46

[9] Ibid.