Die Sünde Sodoms


 

Bibelleser und Denker merken beim Studium der Schriften schnell, dass „Sodom“ als Paradigma (Grundsatz) für das Böse schlechthin steht. Ein Prophet nach dem anderen mahnt uns, uns von ihren verderbenbringenden Taten zu distanzieren. Aber was genau war derart schlimm in Sodom?

 

So wahr ich lebe!“ – so lautet der Ausspruch des Ewigen Gottes – „deine Schwester Sodom samt ihren Tochterstädten hat nicht so übel gehandelt, wie du es getan hast samt deinen Tochterstädten. Siehe, das war die Verschuldung deiner Schwester Sodom: Hoffart (Stolz), Brot in Fülle und sorglose Ruhe war ihr samt ihren Tochterstädten eigen; aber den Armen und Notleidenden reichten sie niemals die Hand zur Hilfe, sondern sie wurden hochmütig und verübten Gräuel vor meinen Augen; darum schaffte ich sie weg, sobald ich das sah. (Hes. 16).

 

Der Talmud führt zu dem von Hesekiel verwendeten Begriff „Gräuel“ folgendes aus: „Die Leute von Sodom sagten: ‚Da wir in einem Land leben, aus dem das Brot kommt und das den Staub von Gold hat, haben wir alles, was wir brauchen. Wozu brauchen wir Reisende, die doch nur kommen, um uns um unseren Besitz zu bringen? Kommt, lasst uns dafür sorgen, dass die richtige Behandlung der Reisenden in unserem Land vergessen wird‘“ (Sanhedrin 109a).

 

Der Talmud sieht die Hauptschuld Sodoms darin, dass sie ihre Tore für Fremde verschlossen haben. Eines der zentralen Prinzipien der Torah ist die Tatsache, dass die Juden einst Fremde im Land Ägypten waren, was sie mit dem moralischen Imperativ aus-stattete, sich um die weniger Glücklichen zu kümmern; Reisende (vor allem Notleidende) zu meiden ist eine große Übertretung.

 

Wann immer ein Bedürftiger zu ihnen kam, gab ihm jeder Sodomit einen Dinar und schrieb vorher seinen Namen darauf, und gemäß einer vorherigen Vereinbarung boten sie [dem Bedürftigen] kein Brot an. Als [der Arme] schließlich vor Hunger starb, kam jeder einzelne Sodomit und nahm seine Münze zurück (Talmud Sanhedrin 109a).“

 

Nach talmudischem Verständnis führt eine Gesellschaft, die ihre Tore vor (bedürftigen) Fremden und Gästen verschließt, schließlich zu Ausweichmanövern und sogar zu passivem Mord. Vielleicht noch schlimmer ist, dass die Sodomiten hier eine Fassade der Gastfreundschaft präsentieren. Eine Betrachtung des Midrasch sollte diesen Punkt verdeutlichen:

 

R. Levi sagte: [Gott sagte]: ‚Selbst wenn ich schweigen wollte, erlaubt es mir die Gerechtigkeit für ein bestimmtes Mädchen (ribah) nicht, zu schweigen. Denn es geschah einmal, dass zwei Mädchen hinabstiegen, um Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. Die eine sagte zu der anderen: ‚Warum bist du so blass?‘ Sie antwortete: ‚Wir haben nichts mehr zu essen und sind bereit zu sterben.‘ Was hat sie getan? Sie füllte ihren Krug mit Mehl, und sie tauschten [ihre Krüge] aus, jeder nahm den des anderen. Als sie [die Sodomiter] das entdeckten, nahmen sie sie und verbrannten sie.“ (Genesis Rabah 49:6)

 

In seinem Brief schreibt Judas der völligen Zerstörung Sodoms und ihrer Nachbarstädte einen anderen bzw. weiteren Grund zu: „Wie Sodom und Gomorrha nebst den umliegenden Städten, die in gleicher Weise wie diese in Unzucht gelebt und (Wesen von) andersartigem Fleisch nachgestellt haben, stehen sie als warnendes Beispiel da, indem sie die Strafe ewigen Feuers (= endgültige Auslöschung) zu erleiden haben.“

 

Die NET-Bible führt dazu aus: «Gr. „fremdes Fleisch". Diese Formulierung ist unterschiedlich interpretiert worden. Sie könnte sich auf Fleisch einer anderen Spezies beziehen (z. B. Engel, die nach Menschenfleisch gieren). Das würde die Sünde der Engel treffend beschreiben, aber nicht ohne weiteres die Sünde von Sodom und Gomorra erklären. Es könnte sich auf die homosexuellen Praktiken der Sodomiter beziehen, aber eine Schwierigkeit ergibt sich aus der Verwendung von ἕτερος (heteros; „fremd“, „anders“).

 

Wenn dies von ἄλλος (allos, „ein anderer“) zu unterscheiden ist, suggeriert es „ein anderer von einer anderen Art“. Wenn ja, würde das homosexuelles Verhalten angemessen beschreiben? Als Antwort könnte die Sprache leicht und kompakt lauten: „ein anderes Fleisch als das, dem man normalerweise nachgeht“. Würde dies jedoch eine Entsprechung in der Lust der Engel finden? Haben Engel normalerweise sexuelle Beziehungen irgendeiner Art (vgl. Mt 22:30)?

 

Eine andere Alternative ist, dass der Schwerpunkt der Parallele auf der Aktivität der umliegenden Städte und der Aktivität der Engel liegt. Dies ist besonders plausibel, da die Partizipien ἐκπορνεύσασαι (ekporneusasai, „sich der Unzucht hingegeben haben“) und ἀπελθοῦσαι (apelthousai, „verfolgt haben“) mit „Städten“ (πόλεις, poleis) übereinstimmen, einem weiblichen Plural, und nicht mit Sodom und Gomorrah (beides maskuline Substantive). In diesem Fall müsste ihre Sünde nicht unbedingt Homosexualität sein. Höchst-wahrscheinlich werden die weiblichen Partizipien jedoch aufgrund der constructio ad sensum (Konstruktion nach dem Sinn) verwendet.

 

Das heißt, da sowohl Sodom als auch Gomorrah Städte sind, wird das Femininum verwendet, um anzudeuten, dass alle Städte betroffen sind. Die Verbindung zu den Engeln scheint also eher lose zu sein: Sowohl die Engel als auch Sodom und Gomorra frönten abscheulicher sexueller Unmoral. Es kommt also nicht darauf an, ob die Irrlehrer homosexuellen Handlungen nachgehen; allein die sexuelle Unmoral reicht aus, um sie zu verurteilen.»

 

Dies steht mit dem von Hesekiel erwähnten Wort „Gräuel“ in seiner Bedeutung für jegliche Art sexueller Perversion (3. Mose 18) in Einklang.