Privatsphäre

(ordonline.de – Paraschat Balak)


 

מַה־טֹּבוּ אֹהָלֶיך יַעֲקֹב מִשְׁכְּנֹתֶיך יִשְׂרָאֵל

Wie gut sind deine Zelte, Jakow, deine Wohnungen, Jisrael!“ (4. Mose 24:5)

 

Der Parascha dieser Woche lädt geradezu dazu ein, eine Verbindung zwischen unserer heutigen Instagram-Welt und dem obigen Vers herzustellen. Raschi erklärt zur Stelle, basierend auf der Gemara in Bava Basra 60a, dass Bilam auf das Lager des jüdischen Volkes blickte und erkannte, dass die Eingänge zu den gegenüberliegenden Zelten so platziert waren, dass niemand dem anderen ins Zelt blicken konnte. Die Nation warַצָנוּע züchtig – und jede Familie achtete auf die Einhaltung ihrer Privatsphäre.

 

Bilam erkannte, dass das Volk dadurch das Verdienst erworben hatte, die Schechina (g-ttliche Allgegenwart) zu beherbergen. Jahrhunderte- und sogar jahrtausendelang hat es allgemein zum guten Ton gehört, sich wie die jüdische Nation in der Wüste zu betragen: Was hinter verschlossenen Türen geschah, ging niemanden draußen etwas an.

 

Natürlich ist es sicherlich zu begrüßen, dass gewisse Taten, die im Dunkeln und Verborgenen getan wurden und werden – und meistens eine kriminelle Handlung darstellen – heute ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt und verurteilt werden. Aber Bilam blickte auf das Volk, das seinem Alltag nachging, und die Details des Tagesablaufs sind nicht unbedingt eine Angelegenheit der Allgemeinheit.

 

Vor allem im vergangenen Jahrzehnt hat sich durch die Verbreitung sozialer Medien ein neues Gehabe entwickelt: Die meisten Menschen teilen banale Kleinigkeiten ihres Tagesablaufs auf Facebook oder Instagram, es werden Fotos des Frühstücks, des Mittagessens und des Nachtmahls veröffentlicht und mit mehr oder weniger witzigen oder interessanten Kommentaren versehen. Hunderte von Fotos werden gepostet, so dass man seine Mitmenschen, die man oft kaum oder gar nicht kennt, in allen Lebenslagen betrachten kann.

 

Die Zuschauer dieses exhibitionistischen Verhaltens geben ähnliche Details ihres Lebens preis und Millionen von Menschen verschwenden Stunden jeden Tag mit dem Lesen und Betrachten von Nichtigkeiten. Wie sind wir dazu gekommen, fast über Nacht freiwillig unsere Privatsphäre aufzugeben und uns auf Instagram zu inszenieren?

 

Ein Ausspruch, der dem Kotzker Rebben (Rav Menachem Mendel Morgensztern, 1787-1859) zugeschrieben wird, könnte uns vielleicht aufrütteln: Nicht alles, das man denkt, muss gesagt werden; nicht alles, das gesagt wird, muss niedergeschrieben werden; nicht alles, das aufgeschrieben wird, muss veröffentlicht werden, und nicht alles, das veröffentlicht wird, muss gelesen werden.

 

Ist es nicht allmählich Zeit, sich auf diese Prinzipien zurückzubesinnen und unser Leben ohne die allgegenwärtige Kamera wirklich zu erleben? Vielleicht gelingt es uns ja auch, wieder mehr צָנוּע zu werden und wirkliche Werte zu erkennen. Einen Hinweis darauf finden wir in der Haftara dieser Woche (Micha 6:8):

 

הִגִּיד לך אָדָם מַה־וֹטּבוּ מָה־ה' וֹדּרֵשׁ מִמּך כִּי אִם־עֲוֹשׂת מִשְׁפָּט וְאַהֲבַת חֶסֶד וְהַצְנֵע לֶכֶת עִם־אֱֹלקֶיָך:

Er hat dir kundgetan, o Mensch, was gut ist, und was Haschem von dir fordert ist doch nur; auf Recht halten, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem G-tt.