Respektvoller Umgang mit Worten – kein Klatsch und Tratsch
(ordonline.de – Paraschat Mezora)
„Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu“ ist ein sehr einfacher und zugleich sehr effektiver Kompass im Umgang mit anderen. Bleiben Sie selbstkritisch: was tue ich dem anderen mit meinen Worten an?
Informationszeitalter
Ist die Gefahr von Klatsch und Tratsch noch aktuell? Ich denke, die Lektion des Aussatz war noch nie so aktuell wie heute. Wir leben im Informationszeitalter. In einer Demokratie ist nichts heilig außer der Redefreiheit“, heißt es oft.
Das freie Wort ist nicht heilig.
Wir vergessen allzu schnell, dass der größte gemeinsame Nenner fast aller Menschenrechte das Wohlergehen der (westlichen) Menschen ist und nicht der Schutz eines abstrakten Prinzips wie des „freien Wortes“, so schön dieses demokratische Grundprinzip für uns auch klingt.
Wir können einen Ballon über die „Unantastbarkeit“ des freien Wortes und eine ganze Reihe anderer verfassungsrechtlicher Wünsche steigen lassen, aber wenn wir den Menschen und seine gewöhnlichen, berechtigten menschlichen Gefühle völlig aus den Augen verlieren, sind wir seit der Aufklärung nicht gewachsen.
Es gibt kein Recht zu verletzen.
Die Tora legt – an einer völlig unerwarteten Stelle – großen Wert auf einen sorgfältigen Gebrauch der Sprache. Die Tora befürwortet die Redefreiheit, aber dabei muss man auf die Gefühle der anderen Rücksicht nehmen. Der eine hat kein Recht, den anderen zu verletzen.
Aussatz ist ein Eingriff von Oben.
In den Kapiteln 12, 13 und 14 des dritten Buches der Tora, Wajikra oder Levitikus, behandelt die Tora das Phänomen des Aussatzes, den wir nicht mit Lepra verwechseln sollten. Die Symptome der beiden Krankheiten sind keineswegs ähnlich. Wenn jemand aussätzig wurde, musste er die Lagerstätte verlassen. Es gab aber auch ein Reinigungsverfahren, das es dem Aussätzigen ermöglichte, in die Gesellschaft zurückzukehren. Es war ein ganzer Prozess des Lernens und der Resozialisierung.
Wir wollen versuchen, alle Phasen und Hintergründe des Heilungsprozesses zu verstehen. Die Tora sagt, dass der Aussätzige sich selbst reinigen kann, wenn die Symptome des Aussatzes abklingen:„Dann soll der Kohen (Priester) anordnen, dass man für denjenigen, der sich reinigt, zwei lebende reine Vögel und Zedernholz und karmesinrote Wolle und Ysop nehmen soll. Der Priester ordnet dann an, dass ein Vogel über einem Topf mit Quellwasser geschlachtet werden soll.“ (Lev. 14:2-5).
G’tt geht gegen den Verleumder vor.
Der Talmud (jüdische Tradition und Hintergrunderklärung) geht davon aus, dass Aussatz keine gewöhnliche Krankheit ist, sondern ein Eingriff von Oben in das soziale Leben. Der Aussätzige hatte andere durch sein Geschwätz isoliert und ausgeschlossen. Deshalb bekommt er seltsame weiße Flecken auf seiner Haut.
G’tt geht gegen diesen Verleumder vor, denn die meisten Menschen können dies nicht selbst tun. Es ist oft sehr schwierig, sich gegen Klatsch und Verleumdung zu wehren. Deshalb schickt G’tt dem Verleumder Aussatz und er wird aus der Gesellschaft ausgestoßen. Langsam kann sich der Aussätzige reinigen und unter das Volk zurückkehren.
Vögel
Jeder Teil der Reinigungsprozedur in der Tora ist ein Hinweis darauf, wie er sein gemeinschaftliches Leben wieder aufbauen soll. Für die Reinigung wurden Vögel verwendet. Vögel tschilpen und zwitschern. Vögel erinnern uns daran, dass wir nur eine begrenzte Anzahl von Worten von Oben in unser Leben bekommen haben. Seien Sie vorsichtig mit Ihren Worten. Reden Sie nicht zu viel und achten Sie besonders auf Ihren Nachbarn, damit Sie ihn nicht durch Ihr „Gezwitscher“ verletzen.
Verhinderung von Wiederholungen und Rückfällen
Einer der beiden Vögel wurde geschlachtet. Damit sollte dem Aussätzigen die Vorstellung vermittelt werden, dass er, wenn er sein spirituelles Niveau anhebt, von weiterer Krankheit verschont bleibt, so wie ein geschlachtetes Tier nicht wieder lebendig werden kann. Der zweite Vogel wurde freigelassen. Damit soll dem Aussätzigen bewusst gemacht werden, dass die Krankheit zurückkehren kann, wenn er seine sündigen Gewohnheiten wieder aufnimmt, so wie der freigelassene Vogel zurückkehren kann. Rückfälle sind sehr häufig, vor allem bei schlechtem Verhalten, und müssen um jeden Preis verhindert werden.
Hoch und niedrig sind vor G’ttes Augen gleich.
Der Zedernbaum ist einer der höchsten Bäume. Der Ysop ist eine der niedrigsten Pflanzen. Der Aussätzige muss erkennen, dass G’tt die Stolzen bestraft und die Unterdrückten erhebt. Hochmut und mangelndes Einfühlungsvermögen sind eine der Quellen der Verleumdung.
Rot ist die Farbe der Sünde.
Karmesin ist die Farbe Rot. Rot symbolisiert schlechtes Verhalten. Der Prophet Jesaja verglich unser schlechtes Verhalten mit roten Fäden (vgl. Jes. 1:18). Es ist oft sehr schwierig, sich zurückzuhalten und nicht zu tratschen. Die karmesinrote Wolle muss auf den Aussätzigen wirken wie ein rotes Tuch auf einen Stier, um ihn zur Selbstanalyse und Selbstkorrektur zu bewegen. Er muss zur Vernunft kommen.
Wir sind wie Würmer.
Karmesinrot wird auf Hebräisch tola’at genannt. Das bedeutet auch Wurm. Es erinnert uns daran, dass wir am Ende zu Staub werden. Dieser Gedanke hält uns weit weg von dem großen sozialen Übel: Ausgrenzung, Cliquenbildung und das Abstempeln anderer als minderwertig.
Zerbrechlich und verletzlich.
Bei dem Reinigungsprozess des Aussatzkranken wird auch eine zerbrechliche Tonschale verwendet. Dies symbolisiert unseren gespaltenen Geist. Wir fühlen uns großartig, wenn wir die andere Person niedertreten können. Aber letztlich bleiben wir zerbrechlich, verletzlich und vergänglich. Wir tratschen oft, um unseren Minderwertigkeitskomplex zu kompensieren.
Wasser reinigt den Körper, so wie die Tora den Geist heilt.
In der Terminologie unserer Weisen erinnert das Quellwasser an die Tora. Das Wasser wird siebenmal über den Aussätzigen gesprenkelt. Dies ist keine willkürliche Vorschrift, sondern soll dem Aussätzigen helfen, aus seinem „Tief“ herauszukommen, und ihm zeigen, dass er die Tora lernen soll, die – nach einer Meinung – aus sieben Büchern besteht.
Klatscht nicht, sondern widmet euch G’tt.
Am achten Tag des Reinigungsprozesses wurde das Blut des Opfers auf das rechte Ohr, den rechten Daumen und die rechte große Zehe des Aussätzigen gestrichen. Nach Rabbiner Hirsch (19. Jahrhundert, Frankfurt am Main) steht das Ohr für unseren Geist, die Hand für unsere Entschlusskraft und die Füße für unsere irdischen Ambitionen. All diese Aspekte des Menschen müssen G’tt geweiht werden, bevor der Sünder in seine frühere Position zurückkehren kann.
Machtmissbrauch
Das Recht auf freie Meinungsäußerung verleiht jedem Bürger eine gewisse Macht und Beredsamkeit, auch gegenüber anderen. Wie bei jeder Machtposition muss auch hier mit äußerster Vorsicht und Umsicht vorgegangen werden. Wenn wir für einen Moment aus der Reihe tanzen, ist dies bereits ein Machtmissbrauch. Wir alle halten sinnlosen Machtmissbrauch für eine schlechte Sache. Wenn ganze Gruppen von Menschen regelmäßig verspottet werden, sei es absichtlich, „nur zum Spaß“ oder aus welchem Grund auch immer, wird jeder Standard des Anstands oder der Gemeinschaftswerte verletzt.
Recht auf Freiheit von verbaler Aggression
Vor mehr als 2.000 Jahren wagten die jüdischen Weisen die Frage, ob die [jüdische] Bibel für den Menschen geschrieben wurde oder ob der Mensch für die Bibel geschaffen wurde. In unserer humanitären Zeit muss der Mensch, trotz aller hochfliegenden Rechtsideale wie der Meinungsfreiheit, immer im Mittelpunkt stehen. Das deutsche Recht erkennt auch das Recht an, von verbalen Angriffen durch andere verschont zu bleiben. Beleidigungen und Angriffe auf die Ehre und den Ruf eines anderen sind strafbar.
Der Richter ist nicht seligmachend.
Wenn man sehr juristisch denkt und wenn es einen selbst nicht betrifft, dann kommt man nüchtern und distanziert zu dem Schluss, dass der Richter entscheiden wird, wo die Grenze der freien Meinungsäußerung liegt. Aus rechtlicher Sicht ist dies sicherlich richtig. Aber auch das Gesetz ist nur dazu da, jedem Bürger eine einigermaßen geschützte Existenz zu bieten. Auch der Richter ist nur ein Mann/eine Frau im sozialen Spannungsfeld, der/die allein bestimmen kann, was für alle deutschen Bürger akzeptabel ist oder nicht.
Verbessere die Welt und fang bei dir selbst an.
Sie können auch den menschlichen Weg einschlagen und den ersten Filter gegen Wortmissbrauch bei sich selbst setzen. Das bedeutet, dass Sie als bewusster und respektvoller Bürger das Recht auf freie Meinungsäußerung so auslegen und anwenden, dass andersdenkende Menschen nicht lächerlich gemacht werden. Denn schließlich geht es um den Schutz der Allgemeinheit der Bürger. Und manchmal tut Fluchen weh.
Behandeln Sie dieses höchste Gut mit Sorgfalt.
Wir leben in einem Informationszeitalter. Das bedeutet, dass die Information der Öffentlichkeit ein hohes Gut ist. Dies bedeutet jedoch, dass wir mit diesem höchsten Gut äußerst vorsichtig und zurückhaltend umgehen müssen. Das beginnt bei uns. Der Talmud (die jüdische Auslegung der Bibel) warnte bereits vor 2.000 Jahren vor den schwerwiegenden Folgen des Missbrauchs der Redefreiheit, in dem das Recht eines jeden Bürgers, nicht verletzt zu werden, im Mittelpunkt steht.
Die Tora ist eine Pflichtenlehre.
Was ist der Unterschied zwischen westlichem und Biblischem Denken? Das westliche Denken formuliert die Menschenrechte, die Tora listet die „Pflichten des Menschen“ auf, basierend auf Angaben aus dem dritten Buch der Bibel, Levitikus (19:16ff): „Gehe nicht umher wie ein Verleumder unter deinen Mitmenschen…Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.
Kurz gesagt bedeutet dies: „Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu.“ Dies ist ein sehr einfacher, aber äußerst wirksamer Kompass im Umgang mit anderen. Bleiben Sie selbstkritisch: Was tue ich dem anderen mit meinen Worten an? Denken Sie lange und gründlich darüber nach. Sonst geht das Licht aus…