Über den jüdischen Charakter

ordonline.de – Paraschat Pekudej


 

Pekudej wird gelegentlich auch als die „Parascha des Buchhalters“ bezeichnet, denn gleich zu Beginn steht die geprüfte Abrechnung der Geld- und Sachspenden für das Heiligtum. So lehrt uns die Tora die Notwendigkeit finanzieller Transparenz.

 

Doch unter der manchmal trockenen Oberfläche verbergen sich zwei außergewöhnliche Geschichten. Die eine findet sich in der Parascha der letzten Woche, die andere in der Woche davor, und beide lehren uns etwas Tiefgründiges über das jüdische Wesen, das auch heute noch Gültigkeit hat.

 

Die erste Erzählung hat mit dem Heiligtum selbst zu tun. Gott befahl Moses, von den Menschen Spenden zu erbitten. Einige brachten Gold, andere Silber, wieder andere Kupfer. Andere gaben Wolle, Leinen oder Tierfelle. Manche spendeten Akazienholz, Öl, Gewürze oder Weihrauch. Wieder andere gaben Edelsteine für das Brustschild des Hohepriesters. Bemerkenswert war die Bereitwilligkeit, mit der sie spendeten:

 

Morgen für Morgen brachte das Volk weitere Gaben. Da verließen alle Handwerker, die am Heiligtum arbeiteten, ihre Arbeit und sagten zu Moses: ‚Das Volk bringt mehr als genug für die Arbeit, die Gott uns aufgetragen hat.‘ Moses befahl, im ganzen Lager zu verkünden: ‚Kein Mann und keine Frau soll noch etwas als Opfergabe für das Heiligtum bringen.‘ Und so brachte das Volk nichts mehr, denn das, was sie schon hatten, war mehr als genug für alle Arbeit, die zu verrichten war“ (Exod. 36:3-7).

 

Sie brachten zu viel. Moses musste ihnen sagen, dass sie aufhören sollten. Das sind nicht die Israeliten, wie wir sie zu sehen gewohnt waren: streitsüchtig, zänkisch, undankbar. Dies ist ein Volk, das sich danach sehnt, zu geben.

 

Eine Parascha zuvor lasen wir eine ganz andere Geschichte. Das Volk war in Sorge. Moses war schon sehr lange auf dem Berg. War er noch am Leben? War ihm etwas zugestoßen? Wenn ja, wie sollten sie dann das göttliche Wort empfangen, das ihnen vorgibt, was sie tun und wohin sie gehen sollten? Deshalb verlangten sie ein Kalb – im Grunde ein Orakel, ein Objekt, durch das die göttliche Weisung vernommen werden konnte.

 

Aaron, dies ist die bevorzugte Erklärung, erkannte, dass er das Volk nicht direkt aufhalten konnte, falls er ihre Bitte ablehnte. Also unternahm er etwas in der Absicht, sie hinzuhalten, im Vertrauen darauf, dass Moses in der Zwischenzeit schon zurückkehren würde, wenn es ihm nur gelänge, die Arbeit hinauszuzögern. Das sagte Aaron:

 

Nehmt die goldenen Ohrringe ab, die eure Frauen, Söhne und Töchter tragen, und bringt sie zu mir“ (Exod. 32:2).

 

Dem Midrasch zufolge dachte er, dies würde zu Streitigkeiten in den Familien führen und zu Widerstand gegen seine Bitte um Schmuck und dass sich somit das Vorhaben hinauszögern ließe. Stattdessen lesen wir unmittelbar danach, ohne jede Pause:

 

Da nahmen sie alle ihre Ohrringe ab und brachten sie zu Aaron“ (Exod. 32:3).

 

Wieder die gleiche Großzügigkeit. Dabei könnten die beiden Projekte unterschiedlicher nicht sein. Das eine, das Stiftszelt, war heilig. Das andere, das Kalb, war einem Götzen nahe. Die Errichtung des Stiftszeltes war die höchste Mizwa, die Herstellung des Kalbes hingegen eine schreckliche Sünde. Und doch war die Reaktion in beiden Fällen die gleiche. Daher der Kommentar der Weisen:

 

Man kann das Wesen dieses Volkes nicht verstehen. Bittet man sie für ein Kalb zu spenden, so geben sie. Bittet man sie für das Stiftszelt, so geben sie“ (Jeruschalmi Schekalim 1:45).

 

Der gemeinsame Faktor war ihre Großzügigkeit. Juden mögen wohl nicht immer die richtigen Entscheidungen treffen, wenn es um die Frage geht, wofür sie etwas geben, aber sie geben.

 

Im zwölften Jahrhundert verfasste Moses Maimonides seinen Gesetzeskodex, die Mischne Tora. Darin weicht der Autor zweimal von seiner gewohnt ruhigen juristischen Prosa ab, um auf denselben Punkt hinzuweisen. Als er von der Zedaka, der Wohltätigkeit, spricht, sagt er:

 

Wir haben noch nie eine jüdische Gemeinde gesehen oder von ihr gehört, die keinen Wohltätigkeitsfonds hat“ (Gesetze über Armengeschenke, 9:3).

 

Die Vorstellung, dass eine jüdische Gemeinde ohne ein Netz von Wohltätigkeitseinrichtungen existieren könnte, war fast unvorstellbar. Später, im selben Buch, sagt Maimonides:

 

Wir sind verpflichtet, das Gebot der Zedaka noch gewissenhafter zu erfüllen als jedes andere aktive Gebot, denn die Zedaka ist das Zeichen eines Gerechten, eines Nachkommen unseres Vaters Abraham, wie es heißt: ‚Denn ich kenne ihn, dass er seinen Kindern gebieten wird, … Zedaka zu tun.‘ … Wenn jemand grausam ist und keine Barmherzigkeit zeigt, gibt es Grund genug, seine Abstammung zu hinterfragen, denn Grausamkeit findet sich nur unter den anderen Völkern… Wer sich weigert, Almosen zu geben, wird Belial genannt, dieselbe Bezeichnung, die man auch für Götzenanbeter verwendet“ (Gesetze über Armengeschenke, 10:1-3).

 

Maimonides bringt hier mehr zum Ausdruck als die Tatsache, dass Juden wohltätig sind. Er sagt, dass Wohltätigkeit in den jüdischen Genen verankert ist, Teil unserer ererbten DNA. Es ist eines der Zeichen dafür, ein Kind Abrahams zu sein, so sehr, dass es „Grund genug gibt, seine Abstammung zu hinterfragen“, wenn jemand nicht wohltätig ist. Ob von Natur aus oder durch Erziehung oder beides: Jude zu sein bedeutet, selbstlos zu geben.

 

Die Geographie des Landes Israel weist eine faszinierende Besonderheit auf. Es umfasst zwei Meere: den See Genezareth und das Tote Meer. Der See Genezareth ist voller Leben. Das Tote Meer ist, wie der Name schon sagt, leblos. Und doch werden beide vom selben Fluss, dem Jordan, gespeist. Der Unterschied – und das ist der Schlüssel – besteht darin, dass der See Genezareth Wasser aufnimmt und Wasser abgibt. Das Tote Meer hingegen empfängt, aber es gibt nicht. Zu empfangen, aber nicht zu geben, ist in der jüdischen Geographie wie in der jüdischen Psychologie einfach kein Leben.

 

So war es zu Moses Zeit. Und so ist es auch heute. In nahezu allen Ländern, in denen Juden leben, steht ihre Spendenbereitschaft in keinem Verhältnis zu ihrer Zahl. Leben heißt im Judentum geben.