Die Kunst des Hörens
(rabbisacks.org)
Es gibt zwei Arten von Kulturen, Schamkulturen und Schuldkulturen. In Schamkulturen ist der höchste Wert die Ehre. In Schuldkulturen ist es die Rechtschaffenheit. Scham bedeutet, dass wir uns schlecht fühlen, weil wir die Erwartungen, die andere an uns stellen, nicht erfüllt haben. Schuld hingegen ist das, was wir fühlen, wenn wir den Erwartungen unseres eigenen Gewissens1 nicht folgen. Schamkulturen sind in der Regel visuell. Scham selbst hat damit zu tun, wie man in den Augen anderer Menschen erscheint. Schuldgefühle sind vielmehr innerer Natur. Wir können der Schuld nicht entkommen, indem wir unsichtbar werden. Unser Gewissen begleitet uns, wohin wir auch gehen, unabhängig davon ob wir von anderen gesehen werden. Schuldkulturen sind Kulturen des Ohrs, nicht des Auges.
In der Geschichte von der ersten Sünde im Garten Eden dreht sich alles um den Schein, die Scham, die Vision und das Auge. Die Schlange sagt zur Frau: „Gott weiß, dass an dem Tag, an dem ihr davon esst, eure Augen geöffnet werden, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (Gen. 3:5). Es war das Aussehen des Baumes, das die Torah hervorhebt: „Die Frau sah, dass der Baum gut zu essen und begehrenswert für die Augen war, und dass der Baum verlockend war, um Intelligenz (Verständnis) zu erlangen“ (3:6).
Das Schlüsselgefühl in dieser Geschichte ist die Scham. Vor dem Verzehr der Frucht war das Paar „nackt ... aber ohne Scham“ (2:25). Nach dem Verzehr der Frucht schämen sie sich und versuchen, sich zu verstecken. Die Sünde der ersten Menschen im Garten Eden war, dass sie ihren Augen und nicht ihren Ohren folgten. Ihre Handlungen wurden von dem bestimmt, was sie sahen, nämlich die Schönheit des Baumes, und nicht von dem, was sie hörten, nämlich das Wort Gottes, das ihnen gebot, nicht von ihm zu essen.
Das Judentum ist eine Religion des Hörens, nicht des Sehens. Das Zuhören ist die heilige Aufgabe. Das berühmteste Gebot im Judentum ist „Schma Jisrael“ (Höre, Israel). Was Abraham, Mose und alle Propheten von ihren Zeitgenossen unterschied, war, dass sie die Stimme hörten, die für andere unhörbar war. In einer der großen dramatischen Szenen der Bibel lehrt Gott Elia, dass Er weder im Wirbelsturm, noch im Erdbeben oder im Feuer zu finden ist, sondern in der „stillen, kleinen Stimme“ (1. Kön. 19:12). Es braucht Übung, Konzentration und die Fähigkeit, die Stille im Inneren zu schaffen, um zu lernen, wie man zuhört, sei es Gott oder einem Mitmenschen gegenüber. Das Sehen zeigt uns die Schönheit der geschaffenen Welt, aber das Zuhören verbindet uns mit der Seele (dem Leben) eines anderen, und mit Gott, wenn er zu uns spricht, uns ruft und uns auffordert unsere Aufgabe in der Welt wahrzunehmen.
Wenn man mich fragen würde, wie man Gott finden kann, würde ich sagen: Lerne das Zuhören. Höre auf das Lied des Universums im Ruf der Vögel, dem Rascheln der Bäume, dem Rauschen und Wogen der Wellen. Höre auf die Poesie des Gebets, die Musik der Psalmen. Höre tiefgründig auf die, die du liebst und die dich lieben. Höre auf die Worte Gottes in der Torah und höre,wie sie zu dir sprechen. Höre auf die Debatten der (jüdischen) Weisen über die Jahrhunderte hinweg, wie sie versuchten die Andeutungen und Anspielungen der Texte zu verstehen.
Mach dir keine Gedanken darüber, wie du oder andere aussehen. Die Welt der Erscheinungen ist eine falsche Welt der Masken, Verkleidungen und Verheimlichungen.Zuhören ist nicht leicht. Ich gestehe, es fällt mir ungeheuer schwer. Aber das Zuhören allein überbrückt den Abgrund zwischen Herz und Herz, Selbst und Anderem, Ich und dem Göttlichen. Wenn ich lernen will, auf Gott oder auf meine innere Stimme zu hören, sollte ich zunächst versuchen, den Menschen um mich herum besser zuzuhören. Das fängt wohl damit an, dass ich ein bisschen weniger rede.
1 Im biblischen Sinne muss das „Gewissen“ von einem moralischen Kompass (Naturrecht, Gottes Gebote) eingenordet sein.