Danken vor Denken
(rabbisacks.org)
Die Zehn Gebote (Worte) sind der berühmteste religiöse und moralische Kodex der Geschichte. Bis vor kurzem schmückten sie amerikanische Gerichtssäle. Sie zieren noch immer die meisten Synagogenbögen. Rembrandt gab ihnen ihren klassischen künstlerischen Ausdruck in seinem Porträt von Moses, der im Begriff ist, die Tafeln zu zerbrechen, als er das Goldene Kalb sieht. Die beiden Tafeln mit den zehn Geboten sind das bleibende Symbol des ewigen Gesetzes unter der Souveränität Gottes.
Es sei daran erinnert, dass die „zehn Gebote“ nicht die Zehn Gebote sind. Die Torah nennt sie asseret hadevarim (Ex. 34:28), und die Tradition bezeichnet sie als asseret hadibrot, was so viel bedeutet wie „zehn Worte“ oder „zehn Äußerungen“. Wir können dies besser verstehen, wenn wir die dokumentarischen Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts betrachten, insbesondere die hethitischen Verträge oder „Oberherrschaftsverträge“, die auf die Zeit zwischen 1400 und 1200 v. Chr. zurückgehen, d. h. auf die Zeit von Moses und dem Exodus. Diese Verträge enthielten oft eine doppelte Erklärung der im Vertrag festgelegten Gesetze, zunächst in allgemeiner Form, dann in spezifischen Einzelheiten. Das ist genau die Beziehung zwischen den „zehn Sprüchen“ und den detaillierten Geboten vom Torahabschnitt Mischpatim (Ex. 22-23).
Erstere sind die all-gemeinen Umrisse, die Grundprinzipien der Torah. Gewöhnlich werden sie grafisch und inhaltlich als zwei Fünfergruppen dargestellt, wobei die erste die Beziehungen zwischen uns und Gott (ein-schließlich der Ehrung unserer Eltern, da sie uns, wie Gott, ins Leben gerufen haben), die zweite die Beziehungen zwischen uns und unseren Mitmenschen betrifft.
Es ist jedoch auch sinnvoll, sie als drei Dreiergruppen zu betrachten. Die ersten drei (ein Gott, kein anderer Gott, den Namen Gottes nicht missbrauchen) beziehen sich auf Gott, den Urheber und die Autorität der Gesetze. Bei der zweiten Gruppe (Schabbat halten, Eltern ehren, nicht morden) geht es um die Schöpfung. Schabbat erinnert uns an die Geburt des Universums. Unsere Eltern haben uns ins Leben gerufen. Mord ist verboten, weil wir alle nach Gottes Bild geschaffen sind (Gen. 9:6). Die dritten drei Gebote (Du sollst nicht ehebrechen, nicht stehlen, kein falsches Zeugnis ablegen) beziehen sich auf die grundlegenden Institutionen der Gesellschaft: die Unantastbarkeit der Ehe, die Integrität des Privateigentums und die Rechtsprechung. Wenn einer dieser Punkte wegfällt, beginnt die Freiheit zu bröckeln.
Diese Struktur unterstreicht, wie seltsam das zehnte Gebot ist: „Begehre nicht das Haus deines Nachbarn. Du sollst nicht begehren die Frau deines Nächsten, seinen Sklaven, seine Magd, seinen Ochsen, seinen Esel oder irgend-etwas anderes, was deinem Nächsten gehört.“ Zumindest oberflächlich betrachtet unter-scheidet sich diese Regel von allen anderen, die mit Worten oder Taten zu tun haben.1
Neid, Begehrlichkeit, das Verlangen nach dem, was ein anderer hat, ist ein Gefühl, nicht ein Gedanke, ein Wort oder eine Tat. Und sicherlich können wir nichts für unsere Gefühle. Früher nannte man sie „Leidenschaften“, eben weil wir ihnen gegenüber passiv sind. Wie kann also Neid überhaupt verboten werden? Sicher-lich ergibt es nur Sinn, etwas zu befehlen oder zu verbieten, das unter unserer Kontrolle steht. Warum sollte ein gelegentlicher Anfall von Neid von Bedeutung sein, wenn er anderen Menschen keinen Schaden zufügt?
Mir scheint, dass die Torah hier eine Reihe grundlegender Wahrheiten vermittelt, die wir auf unsere Gefahr hin vergessen. Erstens hat die kognitive Verhaltenstherapie uns daran erinnert, dass das, was wir glauben, sich auf unsere Gefühle auswirkt.2 Narzissten zum Beispiel sind schnell beleidigt, weil sie glauben, dass andere Menschen über sie reden oder sie „missachten“ (respektlos sind), während andere Menschen oft gar nicht an ihnen interessiert sind. Ihr Glaube ist falsch, aber das hält sie nicht davon ab, wütend und nachtragend zu sein.
Zweitens ist Neid eine der Hauptursachen für Gewalt in der Gesellschaft. Ein Beispiel aus der Literatur: Der Neid ist es, der Jago dazu bringt, Othello in die Irre zu führen, was tragische Folgen nach sich zieht. Ein Beispiel aus der frühen Menschheitsgeschichte: Der Neid hat Kain dazu gebracht, Abel zu ermorden. Der Neid ist das, was Abraham und dann Isaak dazu brachte, um ihr Leben zu fürchten, als eine Hungersnot sie zwang, vorübergehend ihre Heimat zu verlassen. Sie glaubten, dass die örtlichen Machthaber sie, die mit attraktiven Frauen verheiratet waren, töten würden, um ihre Frauen in ihren Harem aufnehmen zu können.
Der größte Grund für den Hass der Brüder auf Joseph war der Neid. Sie ärgerten sich über seine Sonderbehandlung durch ihren Vater, über den reich bestickten Mantel, den er trug, und über seine Träume, der Herrscher über alle zu werden. Das führte dazu, dass sie in Erwägung zogen, ihn zu töten und schließlich als Sklaven zu verkaufen.
Rene Girard sagt in seinem Klassiker Gewalt und das Heilige3, dass die grundlegendste Ursache für Gewalt das mimetische Begehren ist, d. h. der Wunsch, das zu haben, was ein anderer hat, was letztlich der Wunsch ist, das zu sein, was ein anderer ist. Neid kann dazu führen, dass viele der anderen Gebote gebrochen werden: Er kann Menschen zu Ehebruch, Diebstahl, Falschaussage und sogar Mord verleiten.4
Wir Juden haben besonderen Grund, Neid zu fürchten. Er hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass es im Laufe der Jahrhunderte Antisemitismus gab. Nichtjuden beneideten die Juden um ihre Fähigkeit, in der Not zu gedeihen - das seltsame Phänomen, das wir im Torahabschnitt Schemot festgestellt haben: „Je mehr sie [die Ägypter] sie [die Juden] bedrängten, desto mehr wuchsen sie und desto mehr breiteten sie sich aus“. Sie beneideten sie auch und vor allem um ihr Gefühl der Auserwähltheit (trotz der Tatsache, dass sich praktisch jedes andere Volk in der Geschichte als auserwählt betrachtet hat)5 Es ist absolut notwendig, dass wir als Juden uns mit einem besonderen Maß an Demut und Bescheidenheit verhalten.
Das Verbot des Neids ist also keineswegs seltsam. Er ist die grundlegendste Kraft, die die soziale Harmonie und Ordnung untergräbt, die das Ziel der Zehn Gebote als Ganzes sind. Aber sie verbieten ihn nicht nur, sondern helfen uns auch, ihn zu überwinden. Gerade die ersten drei Gebote, die uns an die Gegenwart Gottes in der Geschichte und in unserem Leben erinnern, und die zweiten drei, die uns an unsere Geschöpflichkeit erinnern, helfen uns, uns über den Neid zu erheben.
Wir sind hier, weil Gott wollte, dass wir hier sind. Wir haben, was Gott wollte, dass wir haben. Warum sollten wir also danach streben, was andere haben? Wenn das Wichtigste in unserem Leben ist, wie wir in den Augen Gottes erscheinen, warum sollten wir dann etwas anderes wollen, weil jemand anderes es hat?
Wenn wir aufhören, uns in Bezug auf Gott zu definieren, und anfangen, uns in Bezug auf andere Menschen zu definieren, treten Wettbewerb, Streit, Begehrlichkeit und Neid in unser Bewusstsein, und das führt nur zu Unglück. Wenn dein neues Auto mich neidisch macht, werde ich vielleicht motiviert, ein teureres Modell zu kaufen, das ich gar nicht brauche; was mir für ein paar Tage Befriedigung verschafft, bis ich einen anderen Nachbarn entdecke, der ein noch teureres Fahrzeug hat, und so geht es weiter. Sollte es mir gelingen, meinen eigenen Neid zu befriedigen, dann nur um den Preis, dass ich den deinen herausfordere, in einem Kreislauf des auffälligen und allfälligen Konsums, der kein natürliches Ende hat. Daher der Autoaufkleber: „Wer das meiste Spielzeug hat, wenn er stirbt, gewinnt“. Die Betonung liegt hier auf „Spielzeug“, denn dies ist die Ethik des Kindergartens, die in einem reifen Leben keinen Platz haben sollte.
Das Gegenmittel gegen Neid ist Dankbarkeit. „Wer ist reich?“, fragte Ben Zoma und antwortete: „Derjenige, der sich über das freut, was er hat.“ Es gibt eine wunderbare jüdische Praxis, die, täglich ausgeführt, das Leben verändert. Die ersten Worte, die wir beim Aufwachen sagen, sind Modeh ani lefanecha, melech chai wekajam, sche-he-chesarta bi, nischmati, b'chemla, raba emunatecha. „Ich danke Dir, lebendiger und ewiger König, dass du mir in Barmherzigkeit meinen Lebensodem (meine Seele) wieder gegeben hast. Groß ist deine Treue“. Wir danken, bevor wir denken.
Das Judentum ist Dankbarkeit mit Haltung. Wenn wir uns nicht mehr vom Glück anderer schmälern lassen, setzen wir eine Welle positiver Energie frei, die es uns ermöglicht, das zu feiern, was wir haben, anstatt darüber nachzudenken, was andere haben, und das zu sein, was wir sind, anstatt das zu wollen, was wir nicht sind.6
1 Maimonides vertrat zwar die Ansicht, dass das erste Gebot der Glaube an [den Einen] Gott ist. Die Halachot Gedolot im Sinne von Nachmanides waren jedoch anderer Meinung und vertraten die Ansicht, dass der Vers „Ich bin der Ewige, der dich aus Ägyptenland geführt hat“ kein Gebot, sondern ein Vorspiel zu den Geboten sei.
2 Dies ist seit langem Teil des jüdischen Denkens. Ibn Esra z.B. sagt in seinem Kommentar zu diesem Vers, dass wir nur das begehren, was wir für uns selbst als erreichbar empfinden. Wir beneiden nicht diejenigen, von denen wir wissen, dass wir sie nie erreichen können.
3 René Girard, Violence and the Sacred (Baltimore: John Hopkins University Press, 1979).
4 siehe Helmut Schoecks Klassiker Envy – A Theory of Social Behaviour (New York: Harcourt, Brace & World, 1969). Siehe auch Joseph Epstein, Envy (New York: New York Public Library, 2003).
5 siehe Anthony Smith, Chosen Peoples (Oxford: Oxford University Press, 2003).
6 Anm. Mi. Schri.: Das schließt natürlich nicht aus, dass wir uns bis zu unserem letzten Atemzug beständig (und mit Bedacht) weiterentwickeln und das Potential und die Talente nutzen, die Gott uns geschenkt hat. Damit ehren wir Ihn und werden unseren Mitmenschen zum Segen.