Propheten und Weise

(Original: Prophets and Sages, reconstructingjudaism.org)


 

Der Unterschied zwischen einem Propheten und einem Weisen besteht darin, wo die beiden das Wirken Gottes in unserem Leben entdecken. Der Prophet studiert die Zukunft und zeigt uns die Möglichkeiten für Rechtschaffenheit und Güte auf, die uns auf unserem Lebensweg begegnen können. Der Weise blickt in die Vergangenheit und zeigt uns, wie wir durch unsere Entscheidungen und unsere Wege Gottes heilender Gegenwart und liebender Kraft Platz gemacht haben. Der Prophet stärkt uns mit der Gabe der Hoffnung. Der Weise stärkt uns mit der Gabe des Sinns.

 

Wir brauchen beide, den Propheten und den Weisen. Wir müssen beide Stimmen hören. Doch die Aufgabe des Weisen ist schwieriger und größer als die des Propheten. Der Prophet hilft uns, Sinn und Bedeutung in einer offenen Zukunft zu finden. Der Weise leitet uns bei der Suche nach Wert und Bedeutung in unserer bereits abgeschlossenen Vergangenheit.

 

Josefs große Gabe war, dass er sowohl ein Prophet als auch ein Weiser war. Er war von Natur aus ein Visionär. Durch das Fenster der Träume konnte er in die Zukunft blicken. Obwohl er nicht alle Details sehen konnte, konnte er sich ausmalen, wie das Leben aussehen könnte. Er wurde jedoch nicht weise geboren. Er musste lernen, ein Weiser zu sein. Er brauchte die Einsicht und Weisheit, die er durch die Herausforderungen und Prüfungen seines Lebens erlangte.

 

Wenn wir Josef im Torah-Aabschnitt dieser Woche, Wajigasch, begegnen, ist er nicht mehr der unausstehliche junge Visionär, den seine Brüder etwa zwanzig Jahre zuvor in die Sklaverei verkauft hatten. Seine Erfahrungen als Sklave, als Gefangener und als höchster Beamter am ägyptischen Hof lehrten ihn, das menschliche Herz zu verstehen. Er hat gelernt, dass es notwendig war, die Last der Vergangenheit loszulassen, um die Verheißung der Zukunft empfangen zu können.

 

Der dramatische Höhepunkt der Josefs-Geschichte ist der Moment, in dem Josef aus seiner Rolle als Großwesir Ägyptens heraustritt und sich den elf hungrigen Brüdern aus Kanaan als ihr lang vermisster Bruder Josef zu erkennen gibt; als derjenige, den sie über zwei Jahrzehnte zuvor in die Sklaverei verkauft hatten (Gen. 45:1-3). Seine Brüder sind verblüfft über diese Nachricht und können nicht reagieren.

 

Wir können uns nur vorstellen, was sie fühlten: Schock, Angst, Überraschung, Ehrfurcht, Erleichterung. Biblische Erzählungen vermeiden [detaillierte] Beschreibungen. Doch Josef schiebt sofort den Aufruhr beiseite, den sie in ihren Herzen empfunden haben mögen, indem er ihnen erklärt, dass alles, was geschehen ist, Teil von Gottes Plan war. „Seid nicht beunruhigt und macht euch keine Vorwürfe, weil ihr mich verkauft habt“, sagt er ihnen. „Gott hat mich vor euch hergeschickt, um euer Leben zu retten“ (45:5). „Seid nicht von Schuldgefühlen überwältigt“, sagt er ihnen, „ich musste Kanaan verlassen, damit sich mein Potenzial entfalten konnte; und jetzt bin ich aufgrund all dessen, was geschehen ist, in der Lage, euer Leben, das Leben eurer Lieben und das Leben vieler anderer Menschen zu retten.“

 

Jahre zuvor hatte Josef, der Prophet, seine Brüder verärgert, indem er ihnen arrogant eine Zukunft vorhersagte, in der ihre Rolle unter-geordnet und nebensächlich schien. Jetzt tröstet Josef, der Weise, seine Brüder, indem er ihnen hilft, ihre Vergangenheit so zu sehen, dass ihre Handlungen, so fehlerhaft sie auch waren, entscheidend dazu beigetragen haben, eine Situation zu schaffen, in der sie einander helfen konnten.

 

Was für eine Erleichterung muss das für seine Brüder gewesen sein. Die Schuldgefühle, die sich aus ihrer Misshandlung Josefs ergaben, spiegelten sich in ihrer Sorge um ihren jüngsten Bruder Benjamin und in der Sorge um ihren Vater Jakob wider (Gen. 44). Josef erlaubte ihnen, ihre Vergangenheit zu überwinden und gemeinsam mit ihm eine Zukunft für sich und ihre Familien aufzubauen, und zwar mit dem Bruder, den sie zuvor verachtet und gefürchtet hatten.

 

Als junger Mann spürte Josef, der Prophet, dass er über seine Brüder herrschen würde, aber er konnte die Vision nur mit seinen eigenen Augen sehen (37:5-11). Als reifer Mann verstand Josef, der Weise, was es bedeutete, der Anführer seiner Brüder zu sein, und erzählte ihre Geschichte so, dass sie die Macht Gottes widerspiegelte und nicht die Kräfte des Zorns und der Eifersucht, die in ihrem Leben wirkten.

 

Wir sind den Brüdern Josefs viel ähnlicher als dem Weisen Josef. Wir haben wenig Zeit zum Träumen oder Nachdenken. Selbst in guten Zeiten sind wir mit Arbeit überlastet. Wir können so sehr in den Anforderungen des täglichen Lebens gefangen sein, dass die Visionen des Träumers unseren schwachen Halt am Steuerrad des Lebens zu bedrohen scheinen. Oft treffen wir Entscheidungen, die eher auf Leidenschaft als auf Visionen beruhen, und bedauern einige unserer Entscheidungen hinterher. Die überwältigenden Anforderungen der Gegenwart und die Fehler und Enttäuschungen unserer Vergangenheit trüben unsere Vision von einer besseren Zukunft. Wie Josefs Brüder sind auch wir oft nicht in der Lage zu erkennen, wer oder was vor uns steht.

 

Wie sie brauchen wir Propheten und Weisen. Wir brauchen Propheten, die uns den Weg in die Zukunft weisen. Wir brauchen Weise, die uns helfen, unsere Vergangenheit zu wertschätzen. Wie sie brauchen wir Josef.