Die religiöse Bedeutsamkeit Israels aus jüdischer Sicht

(rabbisacks.org)


 

Die lange Reise nach Israel ist fast vorbei. Der Jordan ist fast in Sichtweite. Wir haben die lange Liste der Stationen entlang des Weges gelesen. Endlich neigt sich die Liste dem Ende zu, und Gott sagt zu Mose: „Nehmt das Land in Besitz und lasst euch darin nieder, denn ich habe euch das Land zum Besitz gegeben“ (4. Mose 33:53). Dies ist nach Ramban die Quelle des Befehls, im Land Israel zu wohnen und es zu erben. Das bringt uns zu der Frage nach der religiösen Bedeutung des Landes Israel.

 

Israel ist für das Judentum eindeutig von zentraler Bedeutung. Die übergreifende Geschichte, die im Tanach erzählt wird, ist die Verheißung von und die Reise in das Land. Die jüdische Geschichte beginnt mit Abrahams und Sarahs Reise dorthin. 2. Mose bis 5. Mose handeln von der zweiten Reise in den Tagen von Moses. Der Tanach als Ganzes endet mit dem Edikt von Kyrus, dem König von Persien, der den Juden im babylonischen Exil die Erlaubnis erteilte, in ihr Land zurückzukehren (2. Chr. 36:23).

 

Das Rätsel der jüdischen Geschichte ist, dass die Juden, obwohl das Heilige Land im Mittelpunkt steht, mehr Zeit im Exil verbracht haben als in Israel; mehr Zeit mit der Sehnsucht nach dem Land als dort zu wohnen; mehr Zeit mit Reisen als mit Ankommen.

 

Einerseits muss der Monotheismus Gott als nicht-territorial (= nicht an einen Ort gebunden) verstehen. Der „Gott von Überall“ kann überall gefunden werden. Er ist nicht auf ein Volk oder einen Ort beschränkt - wie die Heiden glaubten. Er übt seine Macht sogar in Ägypten aus. Er schickt einen Propheten, Jona, nach Ninive in Assyrien. Er ist mit einem anderen Propheten, Hesekiel, in Babylon. Es gibt keinen Ort im Universum, an dem er nicht ist.

 

Andererseits muss es unmöglich sein, als Jude außerhalb Israels vollständig seinen Glauben zu leben. Denn sonst wäre den Juden nicht befohlen worden, ursprünglich dorthin zu gehen oder später zurückzukehren. Warum ist der „überörtliche“ Gott gerade an diesem Ort zu finden? Was ist das Besondere an Israel?

 

In Der Kuzari sagt Judah Halevi, dass verschiedene Umgebungen unterschiedliche Ökologien haben. So wie es einige Länder, Klimazonen und Böden gibt, die sich besonders für den Weinbau eignen, so gibt es ein Land, Israel, das sich besonders für das Wachstum von Propheten eignet - ja ein ganzes göttlich inspiriertes Volk.

 

Ramban gibt eine andere Erklärung. Auch wenn jedes Land und jede Nation unter der übergreifenden Souveränität Gottes steht, steht nur Israel direkt unter seiner Herrschaft. Andere werden beherrscht von irdischen und himm-lischen Vermittlern. Ihr Schicksal wird von anderen Faktoren bestimmt. Nur im Land und im Volk Israels finden wir das Glück und Unglück eines Volkes direkt mit ihrer Beziehung zu Gott verknüpft.

 

Yehudah Halevi und Ramban beschreiben beide, was wir geheimnisvolle Geographie nennen könnten. Der Unterschied besteht darin, dass Yehudah Halevi auf die Erde schaut, Ramban auf den Himmel. Für Yehudah Halevi sind das Besondere am Land Israel sein Boden, seine Landschaft und sein Klima. Für Ramban ist es die direkte Lenkung durch Gott. Für beide ist eine religiöse Erfahrung außerhalb Israels möglich, aber sie ist ein blasser Schatten dessen, was sie im Land zu finden ist.

 

Die Tora (Moses) ist nicht nur ein Kodex (Anleitung) der persönlichen Perfektion. Sie ist der Rahmen für den Aufbau einer Gesellschaft, einer Nation, einer Kultur. Sie enthält Wohlfahrtsgesetze, Zivilrecht, Regeln für die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Umweltvorschriften, Tier-schutzbestimmungen, öffentliche Gesundheit sowie Regierungs- und Justizsysteme. Die Tora steht am entgegengesetzten Ende des Spektrums von Gnostizismus und anderen weltverleug-nenden Philosophien, die Religion als einen Aufstieg der Seele in ätherische Gefilde des Geistes sehen. Für das Judentum lebt Gott hier, auf der Erde, in menschlichen Leben, Interaktionen und Verbindungen. Die Tora ist irdisch, weil Gott auf der Erde zu wohnen sucht. Daher besteht die jüdische Aufgabe darin, eine Gesellschaft zu schaffen, in der die göttliche Gegenwart in ihrer Mitte weilen kann.

 

Das Einzigartige an Israel war und ist, dass es der einzige Ort auf der Erde ist, an dem Juden die Möglichkeit hatten, eine ganze Gesellschaft nach jüdischem Vorbild zu schaffen. Es ist möglich, ein jüdisches Leben in Manchester oder Monsey, Madrid. München oder Minsk zu führen. Aber es ist immer eine verkürzte Erfahrung. Nur in Israel führen Juden ihr Leben in der Sprache der Bibel, in einer Zeit, die durch den jüdischen Kalender definiert ist, und in einem Raum, der gesättigt ist mit jüdischer Geschichte.

 

Nur dort bilden sie eine Mehrheit. Nur dort sind sie in der Lage, ein politisches System, eine Wirtschaft und eine Umwelt nach dem Vorbild der jüdischen Werte aufzubauen. Nur dort kann das Judentum sein, was es sein soll - nicht ausschließlich ein Verhaltenskodex für den Einzelnen, sondern auch und vor allem die Architektonik einer Gesellschaft. Daher muss es einen Raum auf der Erde geben, in dem Juden Selbstverwaltung unter göttlicher Souveränität praktizieren.

 

Aber warum gerade Israel? Weil es ein strategischer Schlüsselort war und ist, an dem sich drei Kontinente - Europa, Afrika, und Asien - treffen. In Ermangelung der ausgedehnten flachen und fruchtbaren Räume des Nildeltas oder des Tigris-Euphrat-Tals (oder heute der Ölfelder Arabiens), konnte es nie die Basis eines Imperiums sein, aber aufgrund seiner Lage war es immer von Imperien begehrt. Es war also politisch verwundbar.

 

Es war und ist ökologisch verwundbar, weil ihre Wasserressourcen vom Regen abhängig sind, der in diesem Teil der Welt nie vorhersehbar ist (daher die häufigen erwähnten Hungersnöte in 1. Mose). Seine Existenz konnte daher nie als selbstverständlich angesehen werden. Immer wieder erlebten die Menschen, die Herausforderungen überlebten, dies als ein Wunder. Geographisch und demographisch klein, würde es von herausragenden Leistungen - politisch, militärisch, und wirtschaftlich - seiner Bevölkerung abhängen. Dies würde wiederum von ihrer Moral und ihrem Sendungsbewusstsein abhängen. So wussten die Propheten sowohl auf natürliche als auch auf übernatürliche Weise, dass die Nation ohne soziale Gerechtigkeit und ein Gefühl göttlicher Berufung schließlich fallen und wieder ins Exil gehen würde.

 

Es gibt eine Unmittelbarkeit, eine Natür-lichkeit der jüdischen Erfahrung in Israel, die nirgendwo sonst zu finden ist. Nur in Israel ist Gott so nahe, dass man ihn in der Sonne und im Wind spüren kann, hinter den Hügeln erahnen kann, in der Alltagssprache hören kann, seine Gegenwart in der Morgenluft atmen und gefährdet, aber zuversichtlich unter dem Schatten seiner Flügel leben kann.