Wie das Wort hereinkommt

(rabbisacks.org)


 

Warum Jakob? Das ist die Frage, die wir uns immer wieder stellen, wenn wir die Geschichten im Buch Genesis lesen. Im Gegensatz zu Noah wird Jakob nicht als rechtschaffen, vollkommen in seiner Generation, als jemand, der mit Gott wandelte, beschrieben. Anders als Abraham verließ er sein Land, seinen Geburtsort und das Haus seines Vaters nicht, um einem göttlichen Ruf zu folgen. Anders als Isaak brachte er sich nicht als Opfer dar. Und er schien nicht den brennenden Sinn für Gerechtigkeit und die Bereitschaft zum Eingreifen zu haben, die wir bei Mose in seiner Jugend sehen. Dennoch sind wir (Juden) für alle Zeiten als die Nachkommen Jakobs, Bnei Jisrael (= Kinder Israels), definiert. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Frage: Warum Jakob?

 

Die Antwort, so scheint es mir, findet sich am Anfang des Torahabschnittes „Vajetse“. Jakob befand sich mitten auf einer Reise von einer Gefahr zur anderen. Er war von zu Hause weggegangen, weil Esau geschworen hatte, ihn zu töten, wenn Isaak (ihr Vater) sterben würde. Er war im Begriff, in den Haushalt seines Onkels Laban einzutreten, was wiederum andere Gefahren mit sich bringen würde. Weit weg von zu Hause, allein, befand er sich an einem Punkt höchster Verwundbarkeit. Die Sonne ging unter. Die Nacht brach herein. Jakob legte sich zum Schlafen nieder und sah dann die majestätische Vision der Engel, die eine Leiter hinaufstiegen.

 

Nichts hat Jakob auf diese Begegnung vorbereitet, was er mit seinen eigenen Worten unterstreicht, wenn er sagt: „Der Ewige ist an diesem Ort - und ich wusste es nicht!“ Das Verb, das am Anfang des Textes verwendet wird, „Er kam an einen Ort“, auf Hebräisch vayifga bamakom, bedeutet ebenfalls eine unerwartete Begegnung. Später, im rabbinischen Hebräisch, wurde das Wort haMakom, „der Ort“, zur Bezeichnung für Gott. Auf poetische Weise könnte der Satz vayifga bamakom also so gelesen werden: „Jakob hatte eine unerwartete Begegnung mit Gott.“

 

Nimmt man noch Jakobs nächtlichen Ringkampf mit dem Engel im folgenden Torahabschnitt hinzu, haben wir eine Antwort auf unsere Frage. Jakob ist der Mann, der seine tiefsten geistlichen Erfahrungen allein, nachts, im Angesicht der Gefahr und weit weg von zu Hause macht. Er ist der Mann, der Gott begegnet, wenn er es am wenigsten erwartet, wenn er mit seinen Gedanken woanders ist, wenn er sich in einem Zustand der Angst befindet und möglicherweise am Rande der Verzweiflung steht.

 

Abraham gab den Juden den Mut, die Götzen der damaligen Zeit herauszufordern. Isaak gab ihnen die Fähigkeit zur Selbstaufopferung. Mose lehrte sie, leidenschaftliche Kämpfer für Gerechtigkeit zu sein. Aber Jakob gab ihnen das Wissen, dass Gott gerade dann, wenn man sich am einsamsten fühlt, immer noch da ist und den Mut zur Hoffnung und die Kraft zum Träumen gibt.

 

Manchmal kommen unsere tiefsten geistlichen Erfahrungen, wenn wir sie am wenigsten erwarten, wenn wir der Verzweiflung am nächsten sind. Wir sind an dem Punkt, an dem wir am verletzlichsten sind - und wenn wir uns Gott gegenüber am meisten öffnen, ist Gott auch am meisten offen für uns. Die tiefste aller geistlichen Erfahrungen, der Kern aller anderen, ist das Wissen, dass wir nicht allein sind. Gott hält uns an der Hand, beschützt uns, hebt uns auf, wenn wir fallen, vergibt uns, wenn wir versagen, und heilt die Wunden in unserer Seele (= Leben) durch die Kraft seiner Liebe.