Stoff zum Nachdenken1

(rabbisacks.org)


 

Die zweite Hälfte des Buches Exodus und der erste Teil des Buches Levitikus bilden eine sorgfältig strukturierte Erzählung. Den Israeliten wird befohlen, ein Heiligtum zu errichten. Sie führen den Befehl aus. Es folgt ein Bericht über die Opfer, die dort dargebracht werden sollen. Dann, im ersten Teil des heutigen Torah-Abschnittes (Shemini), werden die Kohanim, die Priester, in ihr Amt eingeführt.

 

Was dann folgt, ist jedoch unerwartet: die Speisegesetze, eine Liste der erlaubten und verbotenen Arten, Tiere, Fische und Vögel. Was ist die Logik dieser Gesetze? Und warum stehen sie hier? Welche Verbindung besteht zwischen ihnen und dem Heiligtum?

 

Der verstorbene R. Elie Munk (The Call of the Torah, Bd. 2, S. 99) hat einen faszinierenden Vorschlag gemacht. Wie wir in unseren Überlegungen bereits erwähnt haben, war das Heiligtum ein menschliches Gegenstück zum Kosmos. Mehrere Schlüsselwörter im biblischen Bericht über seinen Bau sind auch Schlüsselwörter in der Schöpfungserzählung am Anfang der Genesis.

 

Der Talmud (Megilla 10b) sagt über die Fertigstellung des Heiligtums: „An jenem Tag herrschte Freude vor dem Heiligen, gepriesen sei Er, wie an dem Tag, als Himmel und Erde erschaffen wurden.“ Das Universum ist das Haus, das Gott für die Menschheit geschaffen hat. Das Heiligtum war das Haus, das die Menschen für Gott geschaffen hatten.

 

R. Munk erinnert uns daran, dass das erste Gebot, das Gott dem ersten Menschen gab, ein Speisegebot war2. „Du darfst von jedem Baum im Garten essen; aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen darfst du nicht essen, denn wenn du davon isst, wirst du sterben.“ Die Speisegesetze an Schemini sind eine Parallele zu dem Adam erteilten Verbot. Wie damals, so wird auch heute eine neue Ära in der geistigen Geschichte der Menschheit, der ein Schöpfungsakt vorausging, durch Gesetze darüber gekennzeichnet, was man essen darf und was nicht.

 

Und warum? Wie beim Geschlechtsverkehr, so auch beim Essen: Es handelt sich um die ursprünglichsten Aktivitäten, die der Mensch mit vielen anderen Lebensformen teilt. Ohne Sex gibt es kein Fortbestehen der Art. Ohne Nahrung kann auch der Einzelne nicht über-leben. Deshalb haben sich ganz unterschiedliche Kulturen auf diese Aktivitäten konzentriert. Auf der einen Seite gibt es hedonistische Kulturen, in denen Nahrung und Sex als Vergnügen angesehen und als solches betrieben werden. Auf der anderen Seite gibt es asketische Kulturen - gekennzeichnet durch klösterliche Abgeschiedenheit -, in denen Sex vermieden und das Essen auf ein Minimum beschränkt wird. Bei den ersteren steht der Körper im Vordergrund, bei den letzteren der Geist.

 

Im Gegensatz dazu sieht das Judentum die menschliche Situation im Sinne von Zusammenspiel, Integration und Gleichgewicht. Wir sind Körper und Geist, eine lebendige Seele. Daraus ergibt sich der jüdische Imperativ, der weder hedonistisch noch asketisch ist, sondern transformativ. Uns wird befohlen, die Tätigkeiten des Essens und des Geschlechtsverkehrs zu heiligen. Daraus ergeben sich die Speisegesetze und die Gesetze der Familienreinheit (Niddah und Mikwe), zwei Schlüsselelemente der Keduscha, des heiligen Lebens.

 

Wir können jedoch noch weiter gehen. Genesis 1 ist nicht der einzige Schöpfungsbericht im Tanach, der hebräischen Bibel. Es gibt noch mehrere andere. Einer davon ist in den letzten Kapiteln des Buches Hiob enthalten. Diesem Buch gebührt besondere Aufmerksamkeit.

 

Hiob ist das Paradigma des rechtschaffenen Menschen, der leidet. Er verliert alles, was er hat, ohne ersichtlichen Grund. Seine Gefährten sagen ihm, dass er gesündigt haben muss. Nur so kann sein Schicksal mit der Gerechtigkeit Gottes in Einklang gebracht werden. Hiob beharrt auf seiner Unschuld und fordert eine Anhörung vor dem himmlischen Gericht. Etwa 37 Kapitel lang tobt der Streit, dann spricht Gott in Kapitel 38 Hiob „aus dem Wirbelwind“ an.

 

Gott gibt keine Antworten. Stattdessen stellt er vier Kapitel lang eigene Fragen, rhetorische Fragen, auf die es keine Antwort gibt: „Wo warst du, als ich den Grundstein der Erde legte? . . . Bist du zu den Quellen des Meeres gereist oder in den Tiefen des Meeres gewandert? Hat der Regen einen Vater? . . Aus wessen Schoß kommt das Eis?“

 

Gott zeigt Hiob die ganze Bandbreite der Schöpfung, aber es ist ein ganz anderes Bild des Universums als das in Genesis 1-2. Dort steht der Mensch im Mittelpunkt der Erzählung. Er wird als Letzter erschaffen, nach Gottes Ebenbild geschaffen und erhält die [dienende] Herrschaft über alles Lebendige. In Hiob 38-41 sehen wir nicht ein anthropozentrisches (= Mensch als Mittelpunkt), sondern ein theozentrisches (= Gott als Mittelpunkt) Universum. Hiob ist der einzige Mensch im Tanach, der die Welt sozusagen aus der Sicht Gottes sieht.

 

Besonders auffällig ist die Art und Weise, wie in diesen Kapiteln das Tierreich behandelt wird. Hiob sieht keine Haustiere, sondern wilde, unzähmbare Geschöpfe, die in ihrer Kraft und Schönheit prächtig sind und weit weg von den Menschen leben und ihnen völlig gleichgültig sind:

 

Gibst du dem Pferd seine Kraft oder schmückst du seinen Hals mit einer wallenden Mähne?

Lässt du es springen wie eine Heuschrecke, die mit ihrem stolzen Schnauben Schrecken verbreitet? …

Fliegt der Falke durch deine Weisheit und breitet seine Schwingen nach Süden aus?

Erhebt sich der Adler auf deinen Befehl hin und baut sein Nest in der Höhe?

Kannst du den Leviathan mit einem Angel-haken einholen oder seine Zunge mit einem Seil festbinden?

Kannst du eine Schnur durch seine Nase ziehen oder seinen Kiefer mit einem Haken durchbohren? …

Nichts auf der Erde ist ihm gleich - ein Geschöpf ohne Furcht. Er schaut herab auf alle, die hochmütig sind; er ist König über alle, die stolz sind.

 

Dies ist der radikalste nicht-anthropozentrische Abschnitt in der hebräischen Bibel. Er sagt uns, dass der Mensch weder das Zentrum des Universums, noch das Maß aller Dinge ist. Einige der herrlichsten Aspekte der Natur haben nichts mit menschlichen Bedürfnissen und alles mit der göttlichen Schöpfung der Vielfalt zu tun. Einer der wenigen jüdischen Denker, der dies klar zum Ausdruck brachte, war Moses Maimonides:

 

Ich halte die folgende Meinung nach der Lehre der Bibel und den Ergebnissen der Philosophie für richtig, nämlich dass das Universum nicht um des Menschen willen existiert, sondern dass jedes Wesen um seiner selbst willen besteht und nicht wegen einer anderen Sache. So glauben wir an die Schöpfung und brauchen doch nicht zu fragen, welchem Zweck jede Art von existierenden Dingen dient, denn wir nehmen an, dass Gott alle Teile des Universums nach seinem Willen erschaffen hat; einige um ihrer selbst willen, andere um anderer Wesen willen. (Wegweiser für die Verwirrten, III:13)

 

Und weiter: Bedenke, wie groß die Dimensionen und wie groß die Zahl dieser körperlichen Wesen sind. Wenn die ganze Erde nicht einmal den kleinsten Teil der Sphäre der Fixsterne ausmachen würde, in welcher Beziehung steht dann die menschliche Gattung zu all diesen geschaffenen Dingen, und wie kann sich jemand von uns vorstellen, dass sie um seinetwillen existieren und dass sie Werkzeuge zu seinem Nutzen sind? (Wegweiser für die Verwirrten, III:14)

 

Jetzt verstehen wir, worum es bei dem Verbot bestimmter Arten von Tieren, Vögeln und Fischen geht, von denen viele Raubtiere sind, wie die in Hiob 38-41 beschriebenen Geschöpfe. Sie existieren um ihrer selbst willen, nicht um der Menschen willen.3 Das riesige Universum und die Erde selbst mit den unzähligen Arten, die sie beherbergt, haben ihre eigene Integrität und Berechtigung. Ja, nach der Sintflut gab Gott den Menschen die Erlaubnis, Fleisch zu essen, aber das war ein Zugeständnis, als ob er sagen wollte: Tötet, wenn ihr müsst, aber lasst es Tiere sein, nicht andere Menschen.

 

Mit seinem Bund mit den Israeliten lädt Gott die Menschheit ein, ein neues Kapitel in der Geschichte zu beginnen. Dies ist noch nicht der Garten Eden, das wiedergewonnene Paradies. Aber mit dem Bau des Heiligtums - einer symbolischen Wohnung für die göttliche Gegenwart auf Erden - hat etwas Neues begonnen.4 Ein Zeichen dafür ist die Tatsache, dass es den Israeliten nicht erlaubt ist, jedes Lebewesen zu töten, um es zu essen. Einige Arten müssen geschützt, in Freiheit und Unversehrtheit belassen werden und dürfen nicht den menschlichen Machenschaften und Wünschen unterworfen werden. Die neue Schöpfung - das Heiligtum - bedeutet eine neue Würde für die alte Schöpfung - insbesondere für ihre wilden, ungezähmten Geschöpfe. Nicht alles im Universum wurde für den menschlichen Verzehr geschaffen.

 


 

1 Original: Food for thought

2 „Seid fruchtbar und mehret euch“ könnte man ebenso als erstes Gebot anführen.

3 Auf interessante gesundheitliche und ökologische Gesichtspunkte wurde an anderer Stelle hingewiesen.

4 Vgl. auch Röm. 8:18ff, in denen das NT eindrucksvoll das Verlangen der ganzen Schöpfung nach Neugeburt und Erlösung beschreibt, zusammen mit den erlösten Kindern Gottes. Was für eine Hoffnung, was für ein Ausblick.