Die verborgene Bedeutung der Geschichte von Bileam

(rabbisacks.org)


 

Über die Geschichte von Balak und Bileam und den vermeintlichen Flüchen, die sich in Segnungen verwandelten, sind zu Recht viele Fragen gestellt worden. War Bileam ein echter Mann Gottes, oder war er ein Betrüger, ein Magier, ein Zauberer, ein Praktiker dunkler Künste? Hatte er echte Kräfte? War er wirklich - wie einige der Weisen sagten - Moses eben-bürtig?1 War er von der Aussicht auf Belohnung und Ehre durch die Moabiter und Midianiter getrieben, oder war er von Feindseligkeit gegenüber den Israeliten und ihrer scheinbaren Nähe zu Gott motiviert? Warum sagte Gott ihm zuerst, er solle nicht gehen, und änderte dann scheinbar seine Meinung und befahl ihm zu gehen? Welche Bedeutung hat die Episode mit der sprechenden Eselin? Hat sie sich wirklich ereignet, oder war sie, wie Maimonides behauptete, eine Vision in Bileams Kopf?2

 

Das sind echte Fragen, über die viel diskutiert wird. Aber es gibt noch grundsätzlichere Fragen. Was hat die Geschichte hier überhaupt zu suchen? Die gesamte Episode spielte sich abseits der Israeliten ab. Niemand von ihnen, nicht einmal Mose, war als Zeuge anwesend. Die einzigen Zeugen waren Balak, Bileam und einige moabitische Prinzen. Hätten die Israeliten gewusst, in welcher Gefahr sie sich befanden und wie sie aus dieser Gefahr gerettet wurden, hätte es ihnen zu denken gegeben, bevor sie sich in der Episode, die unmittelbar auf die Geschichte von Bileam folgt, mit den moabitischen Frauen auf Unzucht und Götzenanbetung einließen. Sie hätten gewusst, dass die Moabiter nicht ihre Freunde waren.

 

Selbst Mose hätte nicht gewusst, was geschehen war, wenn Gott es ihm nicht gesagt hätte. Kurzum, die Israeliten wurden aus einer Gefahr gerettet, von der sie nichts wussten, und zwar durch eine Befreiung, von der sie nichts wussten. Wie konnte es sie dann treffen?

 

Außerdem: Warum brauchte Gott Bileam und erlaubte ihm doch zu gehen? Er sagte beim ersten Mal „Nein“. Er hätte auch ein zweites „Nein“ sagen können. Die Flüche wären ver-mieden worden, Israel wäre geschützt gewesen, und der Engel, der sprechende Esel und die verschiedenen Orte, Opfer und versuchten Flüche wären überflüssig gewesen. Das ganze Drama scheint unnötig gewesen zu sein.

 

Warum legte Gott Bileam die außergewöhnliche Poesie in den Mund, die die Segenssprüche zu den kunstvollsten Abschnitten der Torah macht? Alles, was Bileam zu sagen hatte - und Bilam sagte es schließlich3 -, war die Verheißung, die er Abraham gab: „Wer dich segnet, den will ich segnen, und wer dir flucht, den will ich verfluchen“ (Gen. 12:3).

 

Wer sollte von dieser Episode betroffen sein? Welche Veränderung sollte sie bewirken? Wer war das Zielpublikum? Die Moabiter waren davon nicht betroffen. Sie brachten ihre Frauen dazu, erfolgreich die israelitischen Männer zu verführen. Daraufhin wurden die Israeliten von einer Plage heimgesucht, der 24.000 Menschen zum Opfer fielen.

 

Die Midianiter, die Israel so feindlich gesinnt waren, dass Gott später zu Mose sagte: „Behandelt die Midianiter als Feinde und tötet sie“ (Num. 25:17-18). Einige Kapitel später wies Gott Mose an, militärische Rache an ihnen zu nehmen (Num. 31).

 

Bileam selbst war davon nicht betroffen. Die Torah ist in dieser Hinsicht sehr subtil. Zuerst lesen wir von der Verführung der Israeliten durch die Moabiter und der dadurch ver-ursachten tödlichen Plage. Dann, sechs Kapitel später, lesen wir, dass Bileam im Verlauf des Krieges gegen die Midianiter getötet wurde (31:8). Einige Verse später heißt es dann: „Sie waren es, die Bileams Rat befolgten und die Israeliten dazu verleiteten, dem Ewigen untreu zu werden, sodass das Volk des Ewigen von einer Plage heimgesucht wurde“ (Num. 31:16).

 

Mit anderen Worten: Nachdem Bileam eine Erfahrung gemacht hatte, die ihn hätte verwandeln sollen (nämlich dass sich Flüche in seinem Mund in Segen verwandelten), blieb er unerbittlich gegen das Volk, das er gesegnet hatte, und anscheinend auch gegen den Gott, der ihm die Worte in den Mund gelegt hatte. Er war immer noch in der Lage, ein Komplott zu schmieden, um den Israeliten zu schaden.

 

Es änderte nichts an den Israeliten, die weiterhin den Moabitern, Midianitern und den Verlockungen von Sex, Essen und fremden Göttern ausgesetzt waren. Es änderte nichts an Mose, der es Pinchas überließ, die entscheidende Handlung zu vollziehen, die die Plage aufhielt, und dem kurz darauf mitgeteilt wurde, dass Josua sein Nachfolger als Anführer sein würde.

 

Wenn es also weder die Moabiter, Midianiter, Israeliten, Bileam noch Mose veränderte, was war dann der Sinn dieser Episode? Welche Rolle hat sie in der Geschichte unseres Volkes gespielt? Denn sie spielt eine wichtige Rolle. Im 5. Buch Mose (Deuteronomium) erinnert Mose das Volk daran, dass die Moabiter „euch nicht mit Brot und Wasser auf eurem Weg entgegenkamen, als ihr aus Ägypten auszogt, und dass sie Bileam, den Sohn Beors aus Pethor in Aram Naharaim, beauftragten, euch zu verfluchen. Aber der Ewige, dein Gott, hörte nicht auf Bileam, sondern verwandelte den Fluch in einen Segen für dich; denn der Ewige, dein Gott, liebt dich“ (Dtn. 23:4-5).

 

Als Josua nach der Eroberung des Landes kam, um den Bund zu erneuern, gab er eine kurze Zusammenfassung der jüdischen Geschichte, wobei er dieses Ereignis besonders hervorhob: „Als Balak, der Sohn Zippors, der König von Moab, sich anschickte, gegen Israel zu kämpfen, sandte er nach Bileam, dem Sohn Beors, um euch zu verfluchen. Aber ich wollte nicht auf Bileam hören, und so segnete er dich immer wieder, und ich befreite dich aus seiner Hand.“ (Jos. 24:9-10).

 

Der Prophet Micha, ein jüngerer Zeitgenosse Jesajas, sagte im Namen Gottes: „Mein Volk, denke daran, was Balak, der König von Moab, geplant hat und was Bilam, der Sohn Beors, geantwortet hat“, bevor er seine berühmte Zusammenfassung des gottgefälligen Lebens gab: „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der Ewige von dir verlangt: Gerechtigkeit zu üben, Barmherzigkeit zu lieben und demütig zu wandeln vor deinem Gott“ (6:5.8).

 

Auf dem Höhepunkt der von Esra und Nehemia nach dem babylonischen Exil ein-geleiteten Reformen ließ Nehemia dem Volk die Torah vorlesen und erinnerte es daran, dass ein Ammoniter oder Moabiter „die Versammlung des Ewigen“ nicht betreten dürfe, weil „sie den Israeliten nicht mit Speise und Wasser entgegenkamen, sondern Bileam beauftragt hatten, einen Fluch über sie auszusprechen. Unser Gott aber verwandelte den Fluch in einen Segen“ (Neh. 13:2).

 

Woher kommt die Resonanz auf ein Ereignis, das scheinbar keine Auswirkungen auf die Beteiligten hatte, keinen Einfluss auf das weitere Geschehen nahm und dennoch als so wichtig erachtet wurde, dass es einen zentralen Platz in der Erzählung der Geschichte Israels durch Mose, Josua, Micha und Nehemia einnimmt?

 

Die Antwort ist grundlegend. Wir suchen vergeblich nach einer Erklärung dafür, warum Gott einen Bund mit einem Volk schließen sollte, das sich wiederholt als undankbar, ungehorsam und untreu erwies. Gott selbst drohte zweimal damit, das Volk zu vernichten, nach dem Goldenen Kalb und der Episode mit den Kundschaftern. Gegen Ende unseres Torahabschnittes schickte er eine Plage gegen sie.

 

In der alten Welt gab es noch andere religiöse Völker. Die Torah nennt Melchizedek, Abrahams Zeitgenossen, „einen Priester des Höchsten Gottes“ (Gen. 14:18). Jitro, der Schwiegervater Moses, war ein midianitischer Priester, der seinem Schwiegersohn gute Ratschläge für die Führung gab. Im Buch Jona beten die heidnischen Seeleute während des Sturms, während der hebräische Prophet Jona schläft. Als der Prophet in Ninive ankam und seine Warnung aussprach, tat das Volk sofort Buße, was in Juda/Israel selten vorkam.

 

Maleachi, der letzte der Propheten, sagt: „Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang wird mein Name unter den Völkern geehrt werden, und überall wird meinem Namen Weihrauch und reines Opfer dargebracht werden; denn mein Name wird unter den Völkern geehrt werden“, spricht der Ewige der Heerscharen, „ihr aber entweiht ihn“ (1:11-12).

 

Warum also Israel erwählen? Die Antwort ist Liebe. Praktisch alle Propheten haben das ausgesprochen. Gott liebt Israel. Er hat Abraham geliebt. Er liebt die Kinder Abrahams. Er ist oft verärgert über ihr Verhalten, aber er kann diese Liebe nicht aufgeben. Das erklärt er dem Propheten Hosea. Geh und heirate eine Frau, die untreu ist, sagt er. Sie wird dir das Herz brechen, aber du wirst sie trotzdem lieben und sie zurücknehmen (Hos. 1-3).

 

Aber wo in der Torah drückt Gott diese Liebe aus? In den Segenssprüchen für Bileam. Dort bringt er seine Gefühle für dieses Volk zum Ausdruck.

 

Ich sehe sie von den Gipfeln der Berge, schaue auf sie von den Höhen: Dies ist ein Volk, das abseits wohnt und nicht zu den Völkern gerechnet wird.“

 

Siehe, ein Volk, das sich erhebt wie ein Löwe, das aufspringt wie der König der Tiere.“

 

Wie lieblich sind deine Zelte, o Jakob, deine Wohnungen, o Israel!“

 

Diese berühmten Worte stammen nicht von Bileam. Sie stammen von Gott - der beredteste Ausdruck seiner Liebe zu diesem kleinen, sonst so unscheinbaren Volk. Bileam, der heidnische Prophet, ist das unwahrscheinlichste Vehikel für Gottes Segen4, aber das ist Gottes Weg. Er wählte ein altes, unfruchtbares Paar, um die Großeltern des jüdischen Volkes zu werden. Er wählte einen Mann, der nicht sprechen konnte, als Sprachrohr für sein Wort. Er wählte Bileam, der Israel hasste, als Boten seiner Liebe. Mose sagt ausdrücklich: „Der Ewige, dein Gott, wollte nicht auf Bileam hören, sondern verwandelte den Fluch in einen Segen für dich, weil der Ewige, dein Gott, dich liebt."

 

Darum geht es in der Geschichte: nicht um Balak, nicht um Bileam, nicht um Moab, nicht um Midian, nicht um das, was danach geschah. Es geht um Gottes Liebe zu einem Volk, seine Stärke, seine Widerstandsfähigkeit, seine Bereit-schaft, anders zu sein, sein Familienleben (Zelte, Wohnstätten) und seine Fähigkeit, Reiche zu überleben.

 

Der Rambam erklärt, dass alle Taten Gottes eine moralische Botschaft für uns haben.5 Ich glaube, dass Gott uns lehrt, dass Liebe Flüche in Segen verwandeln kann. Sie ist die einzige Kraft, die den Hass besiegen kann. Die [göttliche] Liebe heilt die Wunden der Welt.

Nachtrag

 

Beim Lesen des Torahabschnittes Balak fällt es zunächst schwer, die Logik der Geschichte zu verstehen. Wenn Gott nicht damit einverstanden ist, dass Bileam die Abgesandten Balaks begleitet, warum gibt er ihm schließlich grünes Licht, dass er sich auf den Weg machen darf? Wenn der Ewige später einen Engel schickt, um ihn aufzuhalten, warum ermutigt ihn derselbe Engel schließlich, seinen Weg fortzusetzen?

 

In Wirklichkeit hängen Gottes Reaktion auf den Menschen und die Ereignisse, die daraufhin eintreten, vollständig vom Willen des Menschen ab. Wenn ein Mensch motiviert ist, Böses zu tun, warnt Gott ihn und versucht, seinen Impuls zu unterbinden. Doch wenn der Betreffende auf seinen bösen Absichten beharrt, wird er von Gott dazu angehalten weiterzugehen. In solch einem Fall lässt Gott ihm freie Hand, denn das ist die Regel des freien Willens.

 

Wenn der Ewige einen Engel לשטן לו schickt, um sich „ihm in den Weg zu stellen“ (wörtlich: „als Satan/Widersacher“), versteht Raschi dies als einen Engel der Barmherzigkeit, dessen Aufgabe es war, ihm zu helfen, Sünde zu vermeiden.

 

Im Zusammenhang mit Bileam und seiner Eselin stellen die jüdischen Weisen ein grund-legendes Prinzip auf: בדרך שאדם רוצה לילך מוליכין אותו (Bederech scheadam rotzeh lilach molichin oto) - „Wenn ein Mensch sich entschlossen hat, einen Weg zu gehen, wird man (der Himmel) ihn dorthin führen“. Wenn Bileam trotz der Weckrufe durch den Engel und seine Eselin immer noch mit den Männern Balaks gehen will, lässt Gott ihn gewähren.

 

Hätte Bileam aufgepasst, hätte er den Engel als letzte Chance gesehen, von seinem Weg, auf dem er die Kinder Israels verfluchen wollte, abzurücken. Bileam erwies sich sturer als eine Eselin, denn nichts konnte ihn mehr überzeugen, seine bösen Absichten aufzugeben.

 


 

1 Sifrei Deuteronomium 357

2 Führer für die Verwirrten, II:42. Für Nahmanides' kritische Sicht auf Maimonides' Ansatz siehe seinen Kommentar zu Gen 18:1.

3 Num. 24,9: „Gesegnet seien die, die dich segnen, und verflucht die, die dich verfluchen!“ Zuvor, in 23,8: „Wie kann ich die verfluchen, die Gott nicht verflucht hat?“

4 Devarim Rabba 1:4 legt jedoch nahe, dass Gott Bileam auserwählt hat, um die Israeliten zu segnen, denn wenn ein Feind einen segnet, kann man das nicht als bloße Parteilichkeit abtun.

5 Hilchot Deot 1:6.