Schawuot – eine doppelte Feier

(rabbisacks.org)


 

Das Schawuot-Fest ist ein rätselhaftes Geheimnis, gleichsam von einem Rätsel umhüllt. Der Torah-Abschnitt Emor beschreibt und definiert es folgendermaßen:

 

Von dem Tag nach dem Schabbat, dem Tag, an dem du die Garbe des Webopfers gebracht hast, zähle sieben volle Wochen ab. Zähle fünfzig Tage ab bis zum Tag nach dem siebten Schabbat und bringe dann dem Ewigen ein neues Getreideopfer dar. An diesem Tag sollst du eine heilige Versammlung einberufen und keine regelmäßige Arbeit verrichten. Dies soll ein ewiges Gebot sein für die kommenden Generationen, wo immer ihr lebt.“ (Lev. 23:15-21)

 

Das sind die Schwierigkeiten. Erstens wird Schawuot, „das Fest der Wochen“, nicht mit einem kalendarischen Datum versehen, während alle anderen [biblischen] Feste dies tun. Pessach zum Beispiel ist „am fünfzehnten Tag“ des „ersten Monats“. Schawuot hat kein solches Datum. Es wird auf der Grundlage des Zählens von „sieben vollen Wochen“ ab einem bestimmten Anfangszeitpunkt berechnet, nicht durch das Festhalten eines Datums im Jahr.

 

Zweitens konnte Schawuot kein festes Datum haben, solange der Neumond auf der Grundlage von Augenzeugenberichten bestimmt wurde (d. h. bis zum vierten Jahrhundert der gemeinsamen Zeitrechnung). Im jüdischen Kalender kann ein Monat lang (30 Tage) oder kurz (29) sein. Wenn Nisan und Ijar beide lange Monate wären, würde Schawuot auf den 5. Siwan fallen. Wären beide kurz, würde Schawuot auf den 7. Siwan fallen. Wäre der eine Monat lang und der andere kurz, fiele Schawuot auf den 6. Im Gegensatz zu anderen Festen ist (oder war) Schawuot ein bewegliches Fest.

 

Drittens wird der Zeitpunkt, an dem die Zählung der Tage und Wochen beginnt, in einer äußerst zweideutigen Formulierung angegeben: „von dem Tag nach dem Schabbat“. Aber welcher Schabbat? Und was hat der Hinweis auf einen Schabbat hier überhaupt zu suchen? In der vorherigen Passage war von Pessach die Rede, nicht vom Schabbat. Dies führte zu einer der großen Kontroversen im Judentum des Zweiten Tempels.

 

Die Pharisäer, die sowohl an die mündliche als auch an die schriftliche Torah glaubten [also wie Jesus und Paulus an die Inspiration der uns bekannten Hebräischen Bibel], verstanden unter „Schabbat“ hier den ersten Tag des Pessachfestes (15. Nisan). Die Sadduzäer, die nur an die geschriebene Torah [im Prinzip nur an die fünf Bücher Moses] glaubten, nahmen den Text wörtlich. Der Tag nach dem Schabbat ist der Sonntag. So beginnt die Zählung bei ihnen immer an einem Sonntag, und Schawuot, fünfzig Tage später, fällt auch immer auf einen Sonntag.1

 

Das vierte Geheimnis ist jedoch das tiefste: Worum geht es an Schawuot? Woran erinnert es? Über Pessach und Sukkot haben wir keinen Zweifel. Pessach ist ein Gedenken an den Exodus (= Auszug aus Ägypten). Sukkot ist eine Erinnerung an die vierzig Jahre in der Wüste. Wie unser Torah-Abschnitt sagt: „Lebt sieben Tage lang in Hütten: Alle gebürtigen Israeliten sollen in Laubhütten leben, damit eure Nachkommen wissen, dass ich die Israeliten in Laubhütten leben ließ, als ich sie aus Ägypten herausführte. Ich bin der Ewige, dein Gott.“

 

Im Fall von Schawuot sagt die Torah nur, dass es das „Fest der Ernte“ und der „Tag der Erstlingsfrüchte“ ist. Dies sind landwirtschaftliche Beschreibungen, keine historischen. Pessach und Sukkot haben beides: einen landwirtschaftlichen Aspekt (Frühling/Herbst) und einen historischen (Exodus/Wildnis). Dies ist keine Randerscheinung, sondern gehört zum Wesen des jüdischen Glaubens. Andere Religionen der alten Welt feierten die Jahreszeiten. Sie erkannten zyklische Zeiten an. Nur Israel beobachtete die historische Zeit - die Zeit als eine Reise, eine Geschichte, eine sich entwickelnde Erzählung. Die historische Dimension der jüdischen Feste war einzigartig. Umso mehr verwundert es, dass Schawuot biblisch nicht mit einem historischen Ereignis verbunden ist.

 

Die jüdische Tradition bezeichnete Schawuot als „die Zeit der Übergabe der Torah“, den Jahrestag der göttlichen Offenbarung am Sinai, als die Israeliten die Stimme Gottes hörten und einen Bund mit ihm schlossen. Aber diese Verbindung wird in der Torah selbst nicht hergestellt. Zwar heißt es in der Torah: „Im dritten Monat nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, am selben Tag, betraten sie die Wüste Sinai“ (Ex. 19:1), und Schawuot ist das einzige Fest im dritten Monat. Der Zusammenhang ist also implizit, aber nicht explizit. Hier-für, wie auch für das Datum des Festes, benötigen wir die mündliche Überlieferung.

 

Was war dann die Ansicht der Sadduzäer? Es ist unwahrscheinlich, dass sie Schawuot mit der Übergabe der Torah in Verbindung brachten. Denn dieses Ereignis hatte ein Datum, während Schawuot für die Sadduzäer kein Datum hatte. Sie hielten es an einem Sonntag - sie feierten es an einem bestimmten Wochentag, nicht an einem bestimmten Datum im Jahr. Wie sahen die Sadduzäer Schawuot?

 

In der rabbinischen Literatur ist eine faszinierende Episode überliefert (Menachot 65a), in der ein Sadduzäer R. Jochanan ben Zakkai erklärt, warum Schawuot ihrer Meinung nach immer auf einen Sonntag fällt: „Moses, unser Lehrer, war ein großer Liebhaber Israels. Da er wusste, dass Schawuot nur einen Tag dauerte, setzte er es auf den Tag nach dem Schabbat fest, damit Israel sich zwei aufeinanderfolgende Tage lang erquicken konnte.“ Schawuot bescherte den Israeliten ein langes Wochenende!

 

Von diesem Ausgangspunkt aus können wir anfangen zu spekulieren, was Schawuot für die Sadduzäer bedeutet haben könnte. Der verstorbene Louis Finkelstein vertrat die Ansicht, dass sie [vorrangig] Landbesitzer und Bauern waren. Im Allgemeinen waren sie wohlhabender als die Pharisäer und standen dem Staat und seinen Institutionen - dem Tempel und der politischen Elite - näher. Sie kamen im Judentum einer regierenden Klasse am nächsten.

 

Für die Bauern war die landwirtschaftliche Bedeutung von Schawuot klar und vorrangig. Es war „das Fest der Ernte, der Erstlingsfrüchte eurer Arbeit, dessen, was ihr auf dem Feld gesät habt“ (Ex. 23:16). Es stand am Ende eines siebenwöchigen Prozesses, der mit dem Bringen des Omer begann - „eine Garbe des ersten Korns eurer Ernte“ (Lev. 23:10), d.h. der ersten Gerstenernte. Dies war die arbeitsreiche Zeit des Einbringens des Getreides (dies ist der Schau-platz des Buches Ruth und einer der Gründe, warum wir es an Schawuot lesen). Die Landwirte hatten einen besonderen Grund, Gott zu danken, der „Brot aus der Erde hervorbringt“. Außerdem waren sie am Ende der Erntezeit erschöpft. Daher rührt auch die Bemerkung des Sadduzäers, dass sie ein langes Wochenende bräuchten.

 

Wir können nun die Umrisse eines möglichen sadduzäischen Arguments erkennen. Pessach steht für den Beginn der Reise der Israeliten in die Freiheit. Sukkot erinnert an die vierzig Jahre der Wüstenwanderung. Aber wo im jüdischen Jahr erinnern wir uns und feiern das Ende der Reise: den Einzug in das gelobte Land? Wann hat das eigentlich stattgefunden?

 

Im Buch Josua (5:10-12) heißt es: „Am Abend des vierzehnten Tages des Monats feierten die Israeliten das Pessachfest, während sie in Gilgal in der Ebene von Jericho lagerten. Am Tag nach dem Pessachfest, noch am selben Tag, aßen sie etwas von den Erzeugnissen des Landes: ungesäuertes Brot und geröstetes Getreide. Das Manna hörte am Tag nach dem Verzehr dieser Nahrung aus dem Land auf; es gab kein Manna mehr für die Israeliten, sondern sie aßen in diesem Jahr von den Erzeugnissen Kanaans.“

 

Diesen Text nimmt Maimonides als Beweis dafür, dass „der Tag nach dem Schabbat“ tatsächlich, wie es hier heißt, „der Tag nach dem Pessachfest“ bedeutet. Mit den Augen der Sad-duzäer betrachtet, könnte dieser Text jedoch eine ganz andere Bedeutung gehabt haben. Das Omer erinnert an den Tag, an dem die Israeliten zum ersten Mal von den Früchten des ver-heißenen Landes aßen. Es war das Ende der Wüstenjahre - der Tag, an dem sie aufhörten, Manna („Brot vom Himmel“ – Ex. 16:4) zu essen, und begannen, Brot aus dem Land zu essen, in das sie vierzig Jahre lang gereist waren.

 

Der Grund, warum Schawuot in der Torah nur einen landwirtschaftlichen und keinen histo-rischen Inhalt hat, ist, dass die Landwirtschaft in diesem Fall Geschichte war. Die fünfzig Tage, die vom ersten Verzehr von in Israel angebauten Lebensmitteln bis zum Ende der Getreideernte vergehen, stellen das Ende der Reise dar, bei der Pessach der Anfang und Sukkot die Mitte war. Schawuot ist ein Fest des Landes und seiner Produkte, denn es erinnert an den Einzug in das Land in den Tagen Josuas. So könnten die Sadduzäer argumentiert haben. Es war Israels erster Jom ha-Atzma'ut, der Un-abhängigkeitstag. Es war das Fest des Einzugs in das gelobte Land.

 

Es ist vielleicht nicht überraschend, dass die Sadduzäer nach der Zerstörung des Zweiten Tempels rasch verschwanden. Wie kann man ein Fest des Landes feiern, wenn man das Land verloren hat? Wie kann man seine religiöse Identität auf den Staat und seine Institutionen (Tempel, Priester, Könige) stützen, wenn man diese Institutionen verloren hat? Nur eine Bewegung (die Pharisäer) und ein Fest (Schawuot), das auf der Übergabe der Torah beruht, konnten überleben. Denn die Torah war nicht vollständig vom Land abhängig. Sie war „in der Wüste“ gegeben worden. Sie galt überall und überzeitlich [aus jüdischer Sicht].

 

Natürlich liebten die Pharisäer das Land. Sie wussten, dass die Torah in ihrer Gesamtheit nur dort bewahrt werden konnte. Sie sehnten sich danach, beteten dafür und lebten dort, wann immer sie konnten. Aber selbst im Exil hatten sie noch die Torah und die darin enthaltene Verheißung, dass die Juden eines Tages zurückkehren, ihre Souveränität wiedererlangen und das, was sie verloren hatten, wieder aufbauen würden.

 

Der Streit um Schawuot erwies sich als schicksalhaft für die jüdische Geschichte. Diejenigen, die es als „die Zeit der Übergabe der Torah“ feierten, sicherten das jüdische Überleben während der fast 20 Jahrhunderte des Exils und der Zerstreuung. Und wir, die wir in der Ära der Rückkehr leben, können uns über ein doppeltes Fest freuen: über die Torah und über das Land.

 


 

1 Unterschiedliche Lehrmeinungen zwischen Sadduzäern und Pharisäern werden auch in den Evangelien sowie in der Apostelgeschichte erwähnt.