Die Macht der Scham

(ordonline.de – Paraschat Mezora)


 

Am 20. Dezember 2013 wartete eine junge Frau namens Justine Sacco am Flughafen Heathrow auf ihren Flug nach Afrika. Um sich die Zeit zu vertreiben, sendete sie einen geschmacklich fragwürdigen Tweet über die Ansteckungsgefahr von AIDS. Es gab keine unmittelbare Reaktion, und sie bestieg das Flugzeug, ohne zu ahnen, was für ein Sturm in Kürze losbrechen würde. Nachdem ihre Maschine elf Stunden später gelandet war, stellte sie fest, dass sie zu einer internationalen Berühmtheit geworden war. Ihr Tweet und die Reaktionen darauf hatten sich viral verbreitet. In den nächsten elf Tagen wurde sie mehr als eine Million Mal gegoogelt. Sie wurde als Rassistin gebrandmarkt und aus ihrem Job entlassen. Über Nacht war sie zu einer Ausgestoßenen geworden.[1]

 

Die neuen sozialen Medien haben ein altes Phänomen wieder aufleben lassen: die öffentliche Beschämung. Zwei kürzlich erschienene Bücher – Jon Ronsons So You’ve Been Publicly Shamed und Jennifer Jacquets Is Shame Necessary?[2] – haben sich mit diesem Thema befasst. Jacquet sieht darin durchaus etwas Positives: Es kann ein Mittel sein, um beispielsweise öffentliche Unternehmen zu einem verantwortungsvolleren Verhalten zu bewegen. Ronson weist auf die Gefahren hin. Es sei eine Sache, von der Gemeinschaft, der man unmittelbar angehört, beschämt zu werden, aber eine ganz andere, von einem globalen Netzwerk von Fremden beschämt zu werden, die nichts über einen selbst oder den Kontext, in dem die Tat begangen wurde, wissen. Das erinnert eher an Lynchjustiz als an das Streben nach Gerechtigkeit.

 

In jedem Fall erleichtert uns dies den Zugang zum besseren Verständnis des ansonsten verwirrenden Phänomens von Zara’at, das in der Parascha der letzten und in der dieser Woche ausführlich behandelt wird. Zara’at wurde verschiedentlich mit „Lepra“, „Hautkrankheit“ und „schuppiger Infektion“ übersetzt. Es ergeben sich jedoch erhebliche Probleme, wenn man versucht, sie nach einer bekannten Krankheit zu identifizieren. Erstens entsprechen die Symptome nicht der Hansen-Krankheit, genannt Lepra. Zweitens befällt der in der Tora beschriebene Aussatz nicht nur Menschen, sondern auch Hauswände, Möbel und Kleidung. Es gibt keine physische Krankheit, die diese Eigenschaft hat.

 

Außerdem ist die Tora ein Buch über Heiligkeit und korrektes Verhalten und keine medizinische Abhandlung. Und selbst wenn sie dies wäre, wie David Zvi Hoffmann in seinem Kommentar betont,[3] entsprechen die einzuleitenden Schritte nicht denen, die durchzuführen wären, wenn Zara’at eine ansteckende Krankheit wäre. Schließlich ist Zara’at, wie in der Tora beschrieben, ein Zustand, der weniger eine Krankheit anzeigt, sondern eher Unreinheit, Tuma, mit sich bringt. Gesundheit und Reinheit sind zwei völlig verschiedene Dinge.

 

Die Weisen entschlüsselten das Geheimnis, indem sie unsere Parascha mit den Fällen in der Tora in Verbindung brachten, bei denen jemand tatsächlich von Zara’at befallen war. Es geschah Mirjam, als sie wider ihren Bruder Moses sprach (Num. 12:1-15). Ein weiteres Beispiel ist Moses, der am brennenden Busch zu Gott sagte, dass die Israeliten nicht an ihn glauben würden. Seine Hand wurde kurzzeitig „so aussätzig wie Schnee“ (Exod. 4:6). Die Weisen betrachteten Zara’at als Strafe für Laschon Hara, „üble Nachrede“, also wenn schlecht über eine andere Person gesprochen oder sie verunglimpft wird.

 

Dies half ihnen zu erklären, warum die Symptome von Zara’at als Verfärbungen oder Schimmel sowohl die menschliche Haut als auch Wände, Möbel und Kleidung befallen konnten. Es handelte sich um eine Reihe von Warnungen oder Bestrafungen. Zunächst warnte Gott den Übeltäter, indem er ein Zeichen des Verfalls an die Wände seines Hauses sandte. Tat derjenige Buße, hörte der Zustand auf. Tat er dies nicht, waren seine Möbel betroffen, dann seine Kleidung und schließlich seine Haut.

 

Wie haben wir dies zu verstehen? Warum wurde die üble Nachrede als ein so schweres Vergehen angesehen, dass es dieser seltsamen Phänomene bedurfte, um auf ihre Gegenwart hinzuweisen? Und warum wurde sie so und nicht anders geahndet?

 

Die Anthropologin Ruth Benedict schrieb ein Buch über die japanische Kultur, Chrysantheme und Schwert,[4] das die Unterscheidung zwischen zwei Arten von Gesellschaften populär machte: Schuldkulturen und Schamkulturen. Das antike Griechenland war, wie Japan, eine Schamkultur. Das Judentum und die von ihm beeinflussten Religionen waren Schuldkulturen. Die Unterschiede zwischen diesen Kulturen sind beachtlich.

 

In Schamkulturen ist das Entscheidende das Urteil der anderen. Moralisch zu handeln bedeutet, den öffentlichen Rollen, Regeln und Erwartungen zu entsprechen. Man tut, was andere Menschen von einem erwarten. Man folgt den Konventionen der Gesellschaft. Wer dies nicht tut, wird von der Gesellschaft mit Scham, Spott, Missbilligung, Demütigung und Ächtung bestraft.

 

In Schuldkulturen ist nicht das, was andere Menschen über dich denken von Bedeutung, sondern das, was dir die Stimme deines eigenen Gewissens sagt. Moralisch zu leben bedeutet, im Einklang mit verinnerlichten moralischen Imperativen zu handeln: „Du sollst“ und „Du sollst nicht“. Was zählt, ist das, was man für richtig oder falsch hält.

 

Menschen in Schamkulturen sind hingegen fremdbestimmt. Sie sorgen sich darum, wie sie in den Augen anderer erscheinen, oder wie wir heute sagen würden, sie sorgen sich um ihr „Image“. Menschen in Schuldkulturen sind von innen heraus gelenkt. Ihnen ist das, was sie in Momenten absoluter Ehrlichkeit über sich selbst wissen, wichtig. Selbst wenn ihr öffentliches Image unbeschädigt bleibt, fühlen sie sich unwohl, wenn sie wissen, dass sie etwas falsch gemacht haben. Sie wachen nachts auf und sind beunruhigt. „O feiges Gewissen, wie plagst du mich!“, sagt Shakespeares Richard III. „Mein Gewissen hat tausend verschiedene Zungen / Und jede Zunge bringt eine andere Geschichte / Und jede Geschichte verurteilt mich als Schurken.“ Scham ist öffentliche Demütigung. Schuld ist eine innere Qual.

 

Die Entstehung einer Schuldkultur im Judentum ergab sich aus seinem Verständnis der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Im Judentum sind wir keine Schauspieler auf einer Bühne vor der Gesellschaft als Zuschauer und Richter. Wir mögen die Gesellschaft täuschen; Gott aber können wir nichts vormachen. Ob Verstellung oder Stolz, ob Maske oder Persona – die kosmetische Pflege des öffentlichen Images ist irrelevant: „Gott schaut nicht auf das, worauf die Menschen schauen. Die Menschen schauen auf das Äußere, Gott aber blickt auf das Herz“ (I Sam. 16:7).

 

Schamkulturen sind kollektiv und konformistisch. Im Gegensatz dazu betont das Judentum die urbildliche Schuldkultur: den Einzelnen und seine Beziehung zu Gott. Es kommt nicht darauf an, ob wir uns der zeitgenössischen Kultur anpassen, sondern ob wir das tun, was gut, gerecht und richtig ist.

 

Das wiederum ist das Fesselnde am Zara’at-Gesetz: Nach der Auslegung der Weisen ist es eines der seltenen Beispiele in der Tora für eine Bestrafung durch Scham anstelle von Schuld. Das Erscheinen von Schimmel oder Verfärbungen an den Wänden eines Hauses war ein öffentliches Signal für privates Fehlverhalten. So wurde jedem, der dort lebte oder zu Besuch kam, gesagt: „An diesem Ort wurde Schlechtes geredet.“ Nach und nach kamen die Signale immer näher an den Schuldigen heran, erschienen zunächst auf seinem Bett oder Stuhl, dann auf seiner Kleidung, dann auf seiner Haut, bis er schließlich als verunreinigt diagnostiziert wurde:

 

Und der Aussätzige, der die Krankheit trägt – seine Kleidung soll zerrissen und das Haupthaar zerzaust sein. Und bis über seine Oberlippe soll er sich verhüllen, während er ruft: „Unrein! Unrein!“ Er soll unrein sein, solange er die Krankheit hat; unrein ist er. Er soll abgesondert leben; außerhalb des Lagers soll seine Wohnung sein (Lev. 13:45-46).

 

Dies sind die wesentlichen Merkmale der Schande. Zunächst kommt das Stigma: die öffentlichen Zeichen der Schande oder Entehrung (zerrissene Kleidung, wirres Haar). Dann folgt die Ächtung: der zeitweilige Ausschluss von den Alltagsgeschäften der Gesellschaft. Dies hat nichts mit der Krankheit zu tun, sondern mit der gesellschaftlichen Missbilligung. Das ist es, was das Gesetz von Zara’at zunächst so schwer verständlich macht: Es ist eine der seltenen Erscheinungen öffentlicher Beschämung in einer nicht auf Scham und Schuld basierenden Kultur.[5] Dies geschah jedoch nicht, weil die Gesellschaft wünschte, ihre Missbilligung zum Ausdruck zu bringen, sondern weil Gott ihr signalisierte, dies zu tun.

 

Warum aber gerade im Fall von Laschon Hara, der „üblen Nachrede“? Weil Sprache die Gesellschaft zusammenhält. Anthropologen haben argumentiert, dass sich die Sprache bei den Menschen gerade deshalb entwickelt hat, um die Bindungen untereinander zu stärken, damit sie in größeren Gruppen zusammenarbeiten zu können. Vertrauen erhält die Zusammenarbeit aufrecht. In dem Wissen, dass ich mich auf andere verlassen kann, darauf, dass sie das Gleiche tun, sehe ich mich befähigt und ermutigt, Opfer für die Gruppe zu bringen.

 

Genau aus diesem Grund ist Laschon Hara so zerstörerisch: Sie untergräbt das Vertrauen. Sie macht Menschen untereinander misstrauisch. Sie schwächt die Bindungen, die die Gruppe zusammenhalten. Tritt man ihr nicht entgegen, zerstört Laschon Hara jede Gruppe, die sie angreift: eine Familie, ein Team, eine Gemeinschaft, ja sogar eine Nation. Daher ist sie von einzigartig niederträchtigem Charakter: Sie nutzt die Kraft der Sprache, um genau das zu schwächen, wozu die Sprache ins Leben gerufen wurde – das Vertrauen, das die soziale Bindung aufrechterhält.

 

Deshalb war die Strafe für Laschon Hara der vorübergehende Ausschluss aus der Gesellschaft durch öffentliche Bloßstellung (die Zeichen an Wänden, Möbeln, Kleidung und Haut), Stigmatisierung und Scham (zerrissene Kleidung usw.) und schließlich die Ächtung (gezwungen zu sein, außerhalb des Lagers zu leben). Es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, den böswilligen Schwätzer mit den normalen Konventionen des Rechts, der Gerichte und der Feststellung der Schuld beizukommen. Dies kann im Fall von Mozi Schem Ra, Verleumdung oder Verunglimpfung, geschehen, handelt es sich doch in all diesen Fällen in der Tora um eine Falschaussage.

 

Laschon Hara ist subtiler. Sie erfolgt nicht durch eine Unwahrheit, sondern durch eine Anspielung. Es gibt viele Möglichkeiten, den Ruf einer Person zu schädigen, ohne tatsächlich eine Lüge zu erzählen. Jemand, der der Laschon Hara beschuldigt wird, kann leicht sagen: „Ich habe es nicht gesagt, ich habe es nicht so gemeint, und selbst wenn ich es gesagt habe, habe ich damit nichts Unwahres gesagt.“ Der beste Weg, mit Menschen umzugehen, die Beziehungen vergiften, ohne tatsächlich Unwahrheiten zu sagen, ist, sie zu benennen, zu beschämen und zu meiden.

 

Das ist es, was Zara’at den Weisen zufolge in alten Zeiten auf wundersame Weise tat. Heute existiert sie nicht mehr in der Form, wie sie in der Tora beschrieben wird. Aber der Gebrauch des Internets und sozialer Medien als Instrumente der öffentlichen Beschämung verdeutlicht sowohl die Macht als auch die Gefahr einer Kultur der Scham. Nur selten beruft sich die Tora darauf, und im Fall des Mezora nur durch einen Akt Gottes, nicht der Gesellschaft. Dennoch bleibt die Moral der Mezora-Gesetze bestehen: Böswilliges Geschwätz, Laschon Hara, untergräbt Beziehungen, schwächt den sozialen Zusammenhalt und beschädigt das Vertrauen. Sie verdient es, aufgedeckt und beschämt zu werden.

 


 

[1] Jon Ronson, So You’ve Been Publicly Shamed (London, Picador, 2015), S. 63-86.

[2] Jennifer Jacquet, Is Shame Necessary? New Uses for an Old Tool (London, Allen Lane, 2015).

[3] Rabbi David Zvi Hoffmann, hebräischer Kommentar zu Sefer Wajikra (Jerusalem, Mossad Harav Kook, 1972), Bd. 1, S. 253-255.

[4] Chrysantheme und Schwert: Formen der japanischen Kultur (Suhrkamp Verlag, Neuauflage November 1, 2012).

[5] Ein weiteres Beispiel für Beschämung war nach Rabban Jochanan Ben Sakai die Zeremonie, bei der einem Sklaven, der nach sechs Jahren Dienst nicht frei gehen wollte, das Ohr an einem Türpfosten durchstochen wurde (Exod. 20:6). Siehe Raschi ibid. und Kiduschin 22b.