Das geistliche Kind

(rabbisacks.org)


 

Die zehnte Plage steht kurz bevor, und Mose weiß, dass dies die letzte sein wird. Der Pharao wird das Volk nicht einfach ziehen lassen. Er wird sie anflehen zu gehen. Auf Gottes Anweisung hin bereitet Mose das Volk auf die Freiheit vor. Aber er tut dies auf eine einzigartige Weise. Er spricht nicht von Freiheit. Er spricht nicht vom Zerbrechen der Ketten der Knechtschaft. Er erwähnt nicht einmal die lange Reise, die vor uns liegt, oder das Ziel, das gelobte Land, das der Ewige Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen hat, das Land, in dem Milch und Honig fließen.

 

Stattdessen spricht er über Kinder. Dreimal im Verlauf vom Torahabschnitt „Bo“ kommt er auf dieses Thema zu sprechen. Es ist wundervoll unerwartet. Mose spricht nicht überdas Morgen, sondern über die ferne Zukunft. Er feiert nicht den Moment der Befreiung. Stattdessen will er dafür sorgen, dass sie bis zum Ende der Zeit in der Erinnerung des Volkes bleibt. Er möchte, dass jede Generation die Geschichte an die nächste weitergibt. Er möchte, dass jüdische Eltern zu Erziehern (Lehrern) werden, und jüdische Kinder sollen Hüter der Vergangenheit um der Zukunft willen sein. Inspiriert von Gott, lehrte Mose die Israeliten die Lektion, die auch im Chinesischen gelehrt wird: Wenn du für ein Jahr planst, pflanze Reis. Wenn du für ein Jahrzehnt planst, pflanze einen Baum. Wenn du für ein Jahrhundert planst, erziehe (unterweise) ein Kind.

 

Im Laufe der Geschichte wurden die Juden dafür berühmt, dass sie der Bildung den höchsten Stellenwert einräumten. Wo andere Schlösser und Paläste bauten, bauten Juden Schulen und Studienhäuser. Daraus erwuchsen all die bekannten Errungenschaften, auf die wir kollektiv stolz sind: die Tatsache, dass Juden ihre Texte selbst in Zeiten des Massenanalphabetismus kannten; der Rekord jüdischer Gelehrsamkeit und Intellekts; die erstaunliche Überrepräsentation von Juden unter den Gestaltern des modernen Geistes; der jüdische Ruf, manchmal bewundert, manchmal gefürchtet, manchmal karikiert, für geistige Beweglichkeit, Argumente, Debatten und die Fähigkeit, alle Seiten einer Meinungsverschiedenheit zu sehen.

 

Aber Mose wollte nicht nur das mitteilen. Gott hat uns nie befohlen: Du sollst einen Nobelpreis gewinnen. Er wollte, dass wir unseren Kindern eine Geschichte beibringen. Er wollte, dass wir unseren Kindern helfen zu verstehen, wer sie sind, woher sie kommen, was mit ihren Vorfahren geschah; wie sie zu den besonderen Menschen wurden, die sie geworden sind, und welche Momente in ihrer Geschichte ihr Leben und ihre Träume geprägt haben. Er wollte, dass wir unseren Kindern eine Identität geben, indem wir die Geschichte in Erinnerung und die Erinnerung selbst in ein Gefühl der Verantwortung verwandeln.

 

Die Juden wurden nicht dazu berufen, ein Volk von Intellektuellen (Gelehrten) zu sein. Sie waren berufen, Schauspieler in einem Drama der Erlösung zu sein; ein Volk, das von Gott eingeladen wurde, Segen in die Welt zu bringen durch ihre gottgefällige Lebensweise und ein geheiligtes Leben.

 

Der lange Weg in die Freiheit, so lernen wir in unserem Torahabschnitt, ist nicht nur eine Frage der Geschichte und der Politik, geschweige denn von Wundern. Er hat etwas mit der Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu tun. Es geht darum, die Geschichte zu erzählen und sie über die Generationen hinweg weiterzugeben. Es geht um ein Bewusstsein und Bewusstmachen der Gegenwart Gottes in unserem Leben. Es geht darum, Raum für Staunen, Dankbarkeit, Demut, Empathie, Liebe, Vergebung und Mitgefühl zu schaffen, geschmückt mit Ritualen, Gesang und Gebet. Dies alles hilft unseren Kindern Zuversicht, Vertrauen und Hoffnung zu verleihen, sowie ein Gefühl der Identität, der Zugehörigkeit und das Bewusstsein eines Zuhauses im Universum.