Inspiration und Transpiration - Eingebung und Schweiß

(rabbisacks.org)


 

Das alte hebräische Wort für harte Arbeit ist avodah. Dieses Wort bedeutet auch „Gott dienen“. Warum? Weil wir glauben, dass jede Form von geistlichem Wachstum Arbeit erfordert - aber mit Anstrengung und regelmäßigem Handeln ist es möglich.

 

Es gibt eine berühmte Diskussion zwischen mehreren großen [jüdischen] Weisen, in der jeder von ihnen vorschlägt, welches die wichtigste Zeile in der Torah [Moses] ist - klal gadol baTorah.

 

Ben Azzai schlug den Vers vor: „An dem Tag, an dem Gott den Menschen schuf, machte er ihn zum Ebenbild Gottes.“ (1. Mose 5:1).

 

Ben Zoma bevorzugte: „Schma Jisrael - Höre, Israel, der ewige, unser Gott, der Ewige ist einer.“ (5. Mose 6:4)

 

Ben Nannas sagte, dass „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (3. Mose 19:18) sogar noch grundlegender für das Judentum sei.

 

Dann kam Ben Pazzi mit einem Vers aus dem Torahabschnitt (Terumah) von dieser Woche. Er zitierte den Passuk (Abschnitt): „Ein Schaf soll am Morgen geopfert werden und ein zweites am Nachmittag“ (2. Mose 29:39) - oder, wie wir heute sagen würden, Schacharit, Minchah und Maariv (jüdisches Morgen-, Mittag- und Abendgebet). Mit einem Wort: Routine.

 

Am Ende war man sich einig, dass Ben Pazzi Recht hatte. Die Bedeutung von Ben Pazzis Aussage ist klar: All die hohen Ideale, die in den von den anderen Weisen gewählten Versen angedeutet werden - der Mensch als Ebenbild Gottes, der Glaube an die Einheit Gottes und die Nächstenliebe - zählen wenig, solange sie nicht in Gewohnheiten des Handelns umgesetzt werden, die zu Gewohnheiten des Herzens werden. Wir alle können großartige Ideen haben, Inspirationen, die Aussicht auf ein Projekt, das unser Leben verändern könnte. Aber oft ist der Gedanke einen Tag, eine Woche oder ein Jahr später vergessen oder nur noch eine ferne Erinnerung, bestenfalls ein "Vielleicht-hätte-es-sein-können".

 

Die Menschen, die die Welt verändern, ob im Kleinen oder im Großen, sind diejenigen, die Spitzenerfahrungen zur täglichen Routine werden lassen, die wissen, dass es auf die Details ankommt, und die die Disziplin ausdauernder Arbeit entwickelt haben, die sie über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten.

 

Die Größe des jüdischen Denkens besteht darin, dass es hohe Ideale in Verhaltensmuster umsetzt. Die Halacha (jüdisches Gesetz) beinhaltet eine Reihe von Routinen, die - wie die der großen kreativen Köpfe - das Gehirn anpassen, unserem Leben Disziplin verleihen und die Art und Weise verändern, wie wir fühlen, denken und handeln.

 

Vieles im (orthodoxen) Judentum muss Außenstehenden, und manchmal auch Insidern, langweilig und wiederholend erscheinen. Wir folgen Routinen, wir konzentrieren uns auf winzige Details, und manchmal mag es so aussehen, als fehle es an Aufregung, Dramatik oder Eingebung. Doch genau das ist es, was das Schreiben eines Romans, die Komposition einer Symphonie, die Regie eines Films, den Aufbau eines blühenden Unternehmens oder den funktionierenden Einbau einer Heizungsanlage die meiste Zeit ausmacht. Es ist eine Frage von ausdauernder Arbeit, konzentrierter Aufmerksamkeit und täglichen Ritualen. Darin liegt der Ursprung aller nachhaltigen Größe.

 

Diese Rituale haben eine Wirkung. Mediziner haben inzwischen durch Scans und Studien bewiesen, dass wiederholte geistige Übungen das Gehirn neu konfigurieren. Sie geben uns innere Widerstandsfähigkeit. Sie machen uns dankbarer. Sie geben uns ein Grundvertrauen in die Quelle unseres Seins. Sie formen unsere Identität, die Art und Weise, wie wir handeln, reden und denken. So wie Klavierspieler regelmäßige Übung am Piano und Romanautoren tägliche Schreibdisziplin brauchen, brauchen wir tägliche Rituale, die uns zu geistlicher Größe führen. Gott zu dienen ist avodah, was ausdauernde und hingegebene Arbeit bedeutet, aber es kann zu großen Leistungen führen.

 

Wenn du eine plötzliche Eingebung suchst, dann arbeite ein Jahr lang oder ein Leben lang jeden Tag daran. Je mehr du nach geistigen und geistlichen Höhen strebst, desto mehr brauchst du das Ritual und die Routine des biblischen1 „Weges“ zu Gott.

 


 

1 im Original schreibt Rabbi Sacks von der „Halacha, des jüdischen Weges zu Gott“.