Die Größe der Demut

(rabbisacks.org)


 

Bei einem Abendessen, mit dem die Arbeit eines Gemeindeleiters gewürdigt wurde, hob der Gastredner dessen Qualitäten hervor: sein Engagement, seine harte Arbeit und seine Weitsicht. Als er sich setzte, beugte sich der Leiter vor und sagte: „Du hast vergessen, eine Sache zu erwähnen.“ „Was meinst du?“, fragte der Redner. Der Leiter antwortete: „Meine Demut.“

 

So ist es. Große Führungspersönlichkeiten haben viele Eigenschaften, aber Demut (Bescheidenheit) gehört normalerweise nicht dazu. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, neigen sie dazu, ehrgeizig zu sein und ein hohes Maß an Selbstachtung zu haben. Sie erwarten, dass man ihnen gehorcht, sie ehrt, respektiert und sogar fürchtet. Sie können ihre Überlegenheit mühelos zur Schau stellen - Eleanor Roosevelt nannte dies das „Tragen einer unsichtbaren Krone“ -, aber es besteht ein Unterschied zwischen diesem Verhalten und Demut.

 

Das macht eine besondere Bestimmung der Thora Moses unerwartet und stark. Die Thora spricht von einem König. Da sie, wie Lord Acton es ausdrückte, weiß, dass Macht dazu neigt, zu korrumpieren, und absolute Macht absolut korrumpiert, nennt sie drei Versuchungen, denen ein König in der Antike ausgesetzt war. Ein König, so heißt es, sollte nicht viele Pferde, Frauen oder Reichtümer anhäufen - die drei Fallen, in die Jahrhunderte später König Salomo schließlich tappte. Dann fügt die Thora hinzu:

 

Wenn er [der König] auf seinem königli-chen Thron sitzt, soll er für sich selbst eine Abschrift dieser Thora auf eine Schriftrolle schreiben ... Sie soll bei ihm sein, und er soll sie alle Tage seines Lebens lesen, damit er lernt, Ehrfurcht vor dem Ewigen, seinem Gott, zu haben und alle Worte dieser Thora und dieser Verordnungen sorgfältig zu befolgen und sich nicht über seine Brüder zu stellen oder vom Gesetz nach rechts oder links abzuweichen. Dann werden er und seine Nachkommen eine lange Zeit in der Mitte Israels regieren.“ (5.Mose 17)

 

Wenn schon ein König, den alle zu ehren verpflichtet sind, bescheiden sein soll - „sich nicht höher als seine Brüder fühlen“ -, wie viel mehr dann der Rest von uns. Mose, der größte Führer [wir im neuen Bund wissen um einen Größeren, Jesus], den das jüdische Volk je hatte, war „sehr demütig, mehr als alle anderen auf der Erde“ (4. Mose 12). War er groß, weil er bescheiden war, oder bescheiden, weil er groß war? Wie auch immer, wie R. Johanan über Gott selbst sagte: „Wo immer man seine Größe findet, findet man auch seine Demut“1.

 

Dies ist eine der echten Revolutionen, die das Judentum in der Geschichte des Glaubens und Denkens hervorgebracht hat. Die Vorstellung, dass ein König in der antiken Welt demütig sein sollte, wäre absurd gewesen. Noch heute können wir in den Ruinen und Relikten Mesopotamiens und Ägyptens eine schier endlose Reihe von Eitelkeitsprojekten sehen, die von Herrschern zu ihren eigenen Ehren geschaffen wurden. Ramses II. ließ vier Statuen von sich selbst und zwei von Königin Nofretete an der Fassade des Tempels von Abu Simbel aufstellen. Mit einer Höhe von 33 Fuß (etwa 10 – 11 m) sind sie fast doppelt so hoch wie die Statue von Abraham Lincoln in Washington.

 

Aristoteles hätte die Idee, dass Demut eine Tugend ist, nicht verstanden. Für ihn war der Megalopsychos, der Mensch mit der großen Seele, ein Aristokrat, der sich seiner Überlegenheit gegenüber der Masse der Menschheit bewusst war. Die Demut, zusammen mit dem Gehorsam, der Knecht-schaft und der Selbsterniedrigung, war etwas für die niederen Ränge, für diejenigen, die nicht geboren wurden, um zu herrschen, sondern um beherrscht zu werden. Die Idee, dass ein König demütig sein sollte, war eine radikal neue Idee, die vom Judentum eingeführt und später vom (echten) Christentum übernommen wurde.

 

Dies ist ein deutliches Beispiel dafür, wie der Glaube unser Handeln, Fühlen und Denken verändert. Der Glaube, dass es einen Gott gibt, in dessen Gegenwart wir stehen, bedeutet, dass wir nicht der Mittelpunkt unserer Welt sind. Gott ist es. „Ich bin Staub und Asche“, sagte Abraham, der Vater des Glaubens. „Wer bin ich?“, sagte Mose, der größte der Propheten. Das hat sie nicht unterwürfig oder kriecherisch gemacht. Genau in dem Moment, als Abraham sich selbst als Staub und Asche bezeichnete, stellte er Gott zur Rede, ob die von ihm vorgeschlagene Bestrafung Sodoms und der Städte in der Ebene gerecht sei. Es war Mose, der bescheidenste aller Menschen, der Gott aufforderte, dem Volk zu vergeben, und wenn nicht, „tilge mich aus dem Buch, das du geschrieben hast“. Das waren mit die kühnsten Geister, die die Menschheit je hervorgebracht hat.

 

Im Hebräischen gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen zwei Wörtern: anivut (Demut) und schiflut (Selbsterniedrigung). Der Unterschied ist so groß, dass Maimonides Demut als Mittelweg zwischen schiflut und Stolz definierte.2 Demut bedeutet nicht geringe Selbstachtung. Das ist shiflut. Demut bedeutet, dass man sicher genug ist, um nicht von anderen bestätigt werden zu müssen. Sie bedeutet, dass du nicht das Gefühl hast, dich beweisen zu müssen, indem du zeigst, dass du klüger, schlauer, begabter oder erfolgreicher bist als andere. Du bist sicher, weil du in Gottes Liebe lebst. Er hat Vertrauen in dich, auch wenn du es nicht hast. Du brauchst dich nicht mit anderen zu vergleichen. Du hast deine Aufgabe, die anderen haben ihre, und das führt dazu, dass ihr zusammenarbeitet und nicht konkurriert.

 

Das bedeutet, dass du andere Menschen als das sehen und schätzen kannst, was sie sind. Sie sind nicht nur eine Reihe von Spiegeln, in die du nur schaust, um dein eigenes Spiegelbild zu sehen. Wenn du dir deiner selbst sicher bist, kannst du andere wertschätzen. Im Vertrauen auf deine Identität kannst du auch die Menschen wertschätzen, die nicht so sind wie du. Demut ist das nach außen gekehrte Selbst. Sie ist die Einsicht: „Es geht nicht um mich.“

 

Bereits 1979 veröffentlichte der verstorbene Christopher Lasch ein Buch mit dem Titel The Culture of Narcissism (Die Kultur des Narzissmus), das den Untertitel trägt: American life in an age of diminished expectations (Amerikanisches Leben in einer Zeit schwindender Erwartungen). Es war ein prophetisches Werk. Darin vertrat er die Ansicht, dass der Zusammenbruch von Familie, Gemeinschaft und Glaube zu einer grundlegenden Verunsicherung geführt hat, die uns der traditionellen Stützen von Identität und Wert beraubt hat. Er erlebte das Zeitalter des Selfies, des Facebook-Profils, der äußerlich getragenen Designerlabels und der vielen anderen Formen der „Werbung für mich selbst“ nicht mehr, aber es hätte ihn nicht überrascht. Narzissmus, so argumentierte er, sei eine Form der Unsicherheit, die ständige Rückversicherung und regelmäßige Injektionen von Selbstwertgefühl benötigt. Das ist ganz einfach nicht die beste Art zu leben.

 

Ich denke manchmal, dass Narzissmus und der Verlust des (religiösen) Glaubens Hand in Hand gehen. Wenn wir den Glauben an Gott verlieren, bleibt im Zentrum des Bewusstseins nur noch das Selbst. Es ist kein Zufall, dass der größte der modernen Atheisten, Nietzsche, der Mann war, der Demut als Laster und nicht als Tugend ansah. Er beschrieb sie als die Rache des Schwachen am Starken. Es ist auch kein Zufall, dass eines seiner letzten Werke den Titel trug: „Warum ich so klug bin“.3 Kurz nachdem er es geschrieben hatte, verfiel er in den Wahnsinn, der ihn in den letzten elf Jahren seines Lebens einhüllte.

 

Man muss nicht religiös sein, um die Bedeutung von Demut zu verstehen. Im Jahr 2014 veröffentlichte die Harvard Business Review die Ergebnisse einer Umfrage, aus der hervorging, dass die besten Führungskräfte bescheidene Führungskräfte sind“4, die aus Kritik lernen. Sie sind selbstbewusst genug, um andere zu befähigen und ihre Beiträge zu loben. Sie gehen persönliche Risiken zum Wohle des Ganzen ein. Sie wecken Loyalität und einen starken Teamgeist. Und was für Führungskräfte gilt, gilt für jeden von uns als Ehepartner, Eltern, Arbeitskollegen, Mitglieder von Gemeinschaften und Freunde.

 

Ezra Taft Benson sagte, dass „Hochmut (Stolz) sich darum kümmert, wer Recht hat, während Demut sich darum kümmert, was richtig ist“. Gott in Liebe zu dienen, so Maimonides, bedeutet, das zu tun, was wirklich richtig ist, weil es wirklich richtig ist und aus keinem anderen Grund.5 Liebe ist selbstlos. Vergebung ist selbstlos. Das Gleiche gilt für Altruismus bzw. Nächstenliebe. Wenn wir das Ich in den Mittelpunkt unseres Universums stellen, machen wir schließlich jeden und alles zu einem Mittel für unsere Zwecke. Das vermindert sie, und das vermindert auch uns. Demut bedeutet, im Licht dessen zu leben, der größer ist als ich. Wenn Gott im Mittelpunkt unseres Lebens steht, öffnen wir uns für die Herrlichkeit der Schöpfung und die Schönheit der anderen Menschen. Je kleiner das Selbst, desto größer der Radius unserer Welt.

 


 

1 Pesikta Zutrata, Ekev.
2 Maimonides, Eight Chapters, ch. 4; Commentary to Avot, 4:4. In Hilchot Teshuvah 9:1, er definiert shiflut als das Gegenteil von malkhut, Souveränität.
3 Teil des Werkes Ecce Homo.
4 Jeanine Prime and Elizabeth Salib, „The Best Leaders are Humble Leaders“, Harvard Business Review, 12. Mai 2014.
5 Maimonides, Hilkhot Teshuva 10:2.