Der Ger - Fremdling, Gast, Schutzbürger
(rabbisacks.org)
Der Torah-Abschnitt (Parascha) Mischpatim enthält viele Gesetze der sozialen Gerechtigkeit - zum Beispiel das Verbot, eine Witwe oder ein Waisenkind auszunutzen oder Zinsen für ein Darlehen zu verlangen, das Verbot von Bestechung und Ungerechtigkeit und so weiter. Das erste und letzte dieser Gesetze ist jedoch das wiederholte Gebot, einem ger, einem „Fremden“, keinen Schaden zuzufügen. „Du sollst einen Fremden nicht schlecht behandeln und ihn nicht unterdrücken; denn ihr wart Fremde in Ägypten“ (Ex. 22:20). „Ihr sollt einen Fremden nicht unterdrücken; denn ihr wisst selbst, wie es ist, ein Fremder zu sein [wörtlich: „ihr kennt die Seele (= das Leben) eines Fremden“], denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen“ (Ex. 23:9).
In der Vision der Torah von einer gerechten und gnädigen Gesellschaftsordnung geht es eindeutig um etwas Grundlegendes.1 Worin besteht die Logik dieses Befehls? Der tiefgründigste Kommentar stammt von Nachmanides. Nachmanides zufolge hat das Gebot zwei Dimensionen.
Die erste ist die relative Ohnmacht des Fremden. Er oder sie ist nicht von Familie, Freunden, Nachbarn und einer Gemeinschaft von Menschen umgeben, die bereit sind, ihm oder ihr zu Hilfe zu kommen. Deshalb warnt die Torah davor, ihnen Unrecht zu tun, denn Gott hat sich zum Beschützer derer gemacht, die niemanden haben, der sie beschützt. Dies ist die politische Dimension des Gebots.
Der zweite Grund ist, wie wir bereits festgestellt haben, die psychologische Verwundbarkeit des Fremden. Der Fremde ist jemand, der außerhalb der normalen Sicherheiten von Heimat und Zugehörigkeit lebt. Er ist oder fühlt sich allein - und in der gesamten Torah ist Gott besonders empfänglich für den Seufzer des Unterdrückten, die Gefühle des Zurückgewiesenen, den Schrei des Unerhörten. Das ist die emotionale Dimension des Gebots.
Rabbi Chayim ibn Attar (Ohr HaChayim) fügt eine weitere faszinierende Erkenntnis hinzu. Es konnte sein, sagt er, dass Juden als Kinder des Bundes auf diejenigen herabschauen, die nicht jüdisch sind. Deshalb wird ihnen befohlen, sich dem ger nicht überlegen zu fühlen, sondern sich stattdessen an die Erniedrigung zu erinnern, die ihre Vorfahren in Ägypten erfahren haben. Es ist, wie er sagt, ein Gebot der Demut gegenüber den Fremden.
Wie auch immer wir es betrachten, die Sorge der Torah um den Fremden hat etwas Gewaltiges - zusammen mit der historischen Erinnerung, dass „ihr selbst Sklaven in Ägypten wart“. Die Torah scheint anzudeuten, dass diese Gesetze wichtig sind, um zu definieren, was es bedeutet, ein Jude zu sein.
Ein Jude zu sein, bedeutet, ein Fremder zu sein. Es ist schwer, sich der Schlussfolgerung zu entziehen, dass dies der Grund war, warum Abraham befohlen wurde, sein Land, seine Heimat und sein Vaterhaus zu verlassen; warum Abraham schon lange vor Josephs Geburt gesagt wurde, dass seine Nachkommen Fremde in einem Land sein würden, das ihnen nicht gehörte; warum Mose persönlich Exil erleiden musste, bevor er die Führung des Volkes übernahm; warum die Israeliten Verfolgung erleiden mussten, bevor sie ihr eigenes Land erben konnten; und warum die Torah so sehr darauf besteht, dass diese Erfahrung - die Erzählung der Geschichte an Pessach, zusammen mit dem nie vergessenen Geschmack des Brotes der Bedrängnis und den bitteren Kräutern der Sklaverei - ein ständiger Teil ihres kollektiven Gedächtnisses werden sollte.
Die Torah fragt: Warum sollst du den Fremden nicht hassen? Weil ihr einst dort standet, wo er jetzt steht. Du kennst das Herz des Fremden, weil du selbst einmal ein Fremder im Land Ägypten warst. Wenn du ein Mensch bist, ist er es auch. Wenn er weniger als ein Mensch ist, bist du es auch. Du musst den Hass in deinem Herzen bekämpfen, so wie ich, Gott, einst in deinem Namen gegen den größten Herrscher und das mächtigste Reich der alten Welt gekämpft habe.
Ich habe dich zum Urbild des Fremden in der Welt gemacht, damit du für die Rechte der Fremden kämpfst - für deine eigenen und die der anderen, wo immer sie sind, wer immer sie sind, welche Hautfarbe sie haben oder welcher Kultur sie angehören, denn auch wenn sie nicht nach deinem Bild sind, sagt Gott, so sind sie doch nach meinem.2
Zusammengefasst war und ist es die Pflicht der Israeliten, diejenigen willkommen zu heißen, die ehrlich daran interessiert waren, sich zu integrieren. Sie sollten die Gefährdeten beschützen. Gleichzeitig sollten sie diejenigen mit Vorsicht behandeln, die nicht ihren Glauben und ihre Werte teilten und deshalb der Gesellschaft und Wirtschaft schaden konnten.