Die Zukunft nicht vorhersagen

(rabbissacks.org)


 

Jakob lag auf seinem Sterbebett. Er rief seine Kinder zu sich. Er wollte sie segnen, bevor er starb. Aber der Text beginnt mit einer seltsamen Strophe (Gen. 49:1-2):

 

Versammelt euch, damit ich euch sagen kann, was mit euch in den kommenden Tagen geschehen wird. Versammelt euch und hört zu, ihr Söhne Jakobs; hört auf euren Vater Israel.

 

Dies scheint zweimal dasselbe zu sagen, aber mit einem Unterschied. Im ersten Satz ist die Rede von dem, „was euch in den kommenden Tagen widerfahren wird“ (wörtlich: „am Ende der Tage“). Dies fehlt im zweiten Satz. Raschi, der dem Talmud folgt, sagt, dass „Jakob sich wünschte zu offenbaren, was in der Zukunft geschehen würde, aber die göttliche Gegenwart wurde von ihm (für diesen Moment) genommen.“

 

Er versuchte, die Zukunft vorauszusehen, aber es gelang ihm nicht. Dies ist kein unbedeutendes Detail. Es ist ein Schlüsselmerkmal jüdischen Glaubens. Wir glauben, dass wir die Zukunft nicht vorhersagen können, wenn es um Menschen geht. Wir gestalten die Zukunft durch unsere Entscheidungen. Das Drehbuch ist noch nicht geschrieben worden. Die Zukunft ist radikal offen.1

 

Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen einer Prophezeiung und einer Vorhersage. Wenn eine Vorhersage eintrifft, ist sie gelungen. Wenn eine Prophezeiung eintrifft, ist sie gescheitert. Ein Prophet gibt keine Vorhersage, sondern eine Warnung. Er sagt nicht einfach: „Das wird passieren“, sondern: „Das wird passieren, wenn du dich nicht änderst.“ Der Prophet spricht die Freiheit des Menschen, nicht die Unausweichlichkeit des Schicksals an.

 

Und warum? Weil wir frei sind. Wir wählen, wir machen Fehler, wir lernen, wir ändern uns, wir wachsen. Ein Versager in der Schule kann zum Gewinner eines Nobelpreises werden. Die Führungskraft, der es an Fähigkeiten mangelt, kann in einer Krise plötzlich Mut und Weisheit zeigen. Ein Geschäftsmann, der nach Millionen strebt, kann beschließen, sein Leben der Hilfe für die Armen zu widmen. Einige der erfolgreichsten Menschen, die ich je getroffen habe, wurden von ihren Lehrern in der Schule abgeschrieben. Ihnen wurde gesagt, sie würden nie etwas erreichen.

 

Wir widersetzen uns ständig den Vorhersagen. Dies ist etwas, das die Wissenschaft noch nicht erklärt hat und vielleicht nie erklären wird. Manche glauben, Freiheit sei eine Illusion. Aber das ist sie nicht. Sie ist das, was uns zu Menschen macht. Wir sind frei, da wir nicht Objekte, sondern Subjekte sind.

 

Wir reagieren nicht nur auf physische Ereignisse, sondern auf die Art und Weise, wie wir diese Ereignisse wahrnehmen. Wir haben Verstand (mind), nicht nur Gehirne (brains). Wir haben Gedanken (thoughts), nicht nur Empfindungen (emotions). Wir reagieren, aber wir können uns auch entscheiden, nicht zu reagieren.

 

Es gibt etwas an uns, das sich nicht auf materielle, physische Ursachen und Wirkungen bezieht. Glaube nicht, dass die Zukunft geschrieben ist. Das ist sie nicht. Es gibt kein Schicksal, das wir nicht ändern können, keine Vorhersage, der wir nicht trotzen können.

 

Wir sind nicht zum Scheitern verurteilt, und wir sind auch nicht zum Erfolg vorherbestimmt. Wir können die Zukunft nicht vorhersagen, denn wir gestalten die Zukunft - durch unsere Entscheidungen, unsere Willenskraft, unsere Ausdauer und unsere Entschlossenheit zu überleben.

 

Deshalb - als Jakob seinen Kindern sagen wollte, was mit ihnen in der Zukunft geschehen würde, wurde der göttliche Geist von ihm weggenommen.2 Kinder überraschen ihre Eltern. Wir wurden alle nach dem Bild Gottes geschaffen, und wir sind alle frei. Mit Gottes Segen können wir größer werden, als irgendjemand, sogar wir selbst, es vorhersehen kann.

 


 

1 Mi. Schri.: Selbstverständlich handelt auch der Ewige aktiv in der Geschichte und kommt mit gewissen Plänen zum Ziel, auch wenn das Wie und das Wann teilweise verborgen sind. Dazu gehören u.a. die messianischen Vorhersagen, die Wiederherstellung Israels, das 1000-jährige Reich, das kommende Zeitalter.

2 Mi. Schri.: Ein schönes Beispiel ist Jakobs ungute Aussicht für Levi, die dieser Stamm aber später unter Mose bei der Begebenheit mit dem goldenen Kalb, widerlegt. Die Söhne Levis wurden ba’aeli te’shuvah, „Männer der Umkehr“.