Gebrochen für das Licht

(rabbisacks.org)



Es gibt Leben, die Lektionen gleichen. Dasjenige des verstorbenen Henry Knobil war eines. Er wurde 1932 in Wien geboren. Sein Vater war in den 1920er Jahren dorthin gekommen, um dem zunehmenden Antisemitismus in Polen zu entkommen. Aber wie Jakob, der vor Esau zu Laban floh, stellte er fest, dass er nur vor einer Gefahr geflohen war, um mit einer anderen konfrontiert zu werden.



Nach dem Anschluss Österreichs und der Kristallnacht wurde klar, dass die Familie, wenn sie überleben wollte, das Land verlassen musste. Sie kamen 1939 in Großbritannien an, nur wenige Wochen bevor ihr Schicksal besiegelt gewesen wäre, wenn sie geblieben wären. Henry wuchs in Nottingham, in den Midlands, auf. Dort studierte er Textilien und arbeitete nach seinem Militärdienst für eines der großen britischen Unternehmen, bis er schließlich sein eigenes sehr erfolgreiches Textilunternehmen gründete.

 

Er war ein leidenschaftlicher, gläubiger Jude und liebte alles am Judentum. Er und seine Frau Renata waren ein vorbildliches Ehepaar, das sich aktiv am Synagogenleben beteiligte und immer wieder Gäste zum Schabbat oder zu den Festen in ihr Haus einlud. Ich lernte Henry kennen, weil er daran glaubte, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben, nicht nur in Form von Geld, sondern auch in Form von Zeit, Energie und Führungsqualitäten. Er wurde Vorsitzender vieler jüdischer Organisationen, darunter die British Friends of Bar Ilan University, der Jewish Marriage Council (Jüdische Ehe-beratung) und die British-Israel Chamber of Commerce (Britisch-Israel. Handelskammer).

 

Er liebte es, Torah zu lernen und zu lehren. Er war ein hervorragender Erzähler mit einem endlosen Vorrat an Witzen und nutzte seinen Humor regelmäßig, um Krebspatienten, Holocaust-Überlebenden und Bewohnern jüdischer Pflegeheime eine „Lachtherapie“ anzubieten. Er war mit drei Kindern und vielen Enkelkindern gesegnet, hatte sich zur Ruhe gesetzt und freute sich mit Renata auf ein ruhiges letztes Kapitel eines langen und guten Lebens.

 

Dann, vor sieben Jahren1, kam er vom Morgengottesdienst in der Synagoge zurück und musste feststellen, dass Renata einen schweren Schlaganfall erlitten hatte. Eine Zeit lang stand ihr Leben auf der Kippe. Sie überlebte, aber ihr ganzes Leben musste sich nun ändern. Sie gaben ihre prächtige Wohnung im Stadtzentrum auf und zogen an einen Ort, der für Rollstuhlfahrer leichter zugänglich war. Henry wurde Renatas ständige Bezugsperson und Lebenshilfe. Er war Tag und Nacht bei ihr und kümmerte sich um jedes ihrer Bedürfnisse.

 

Die Verwandlung war erstaunlich. Zuvor war er ein willensstarker Geschäftsmann und kommunaler Leiter gewesen. Nun wurde er zum Krankenpfleger, der Sanftmut und Fürsorge ausstrahlte. Seine Liebe zu Renata und ihre Liebe zu ihm tauchten die beiden in eine Aura, die bewegend und demütigend war. Und obwohl er wie Hiob die Himmelspforten hätte stürmen können, um zu erfahren, warum ihnen dies widerfahren war, tat er das Gegenteil. Er dankte Gott täglich für alle Segnungen, die sie genossen hatten. Er beklagte sich nie, zweifelte nie, wankte nie in seinem Glauben.

 

Dann, vor einem Jahr2, wurde bei ihm ein inoperables Leiden diagnostiziert. Er hatte, und das wusste er, nur noch kurze Zeit zu leben. Was er dann tat, war ein Akt höchsten Willens. Er wollte nur eines: die Gnade empfangen, so lange zu leben wie Renata, damit sie nicht alleine wäre. Vor drei Monaten, während ich diese Zeilen schreibe, ist Renata gestorben. Kurz darauf folgte Henry ihr nach. „Geliebt in ihrem Leben und ungeteilt in ihrem Tod.“3 Selten habe ich eine solche Liebe in der Not gesehen.

 

In einem Aufsatz für Covenant and Conversation (Bund und Gespräch) habe ich über die Kraft der Kunst geschrieben, Schmerz in Schönheit zu verwandeln. Henry lehrte uns über die Kraft des Glaubens, Schmerz in chessed, in liebende Güte, zu verwandeln. Der Glaube war das Herzstück dessen, wofür er stand. Er glaubte, dass Gott ihn aus einem bestimmten Grund vor Hitler bewahrt hatte. Er hatte auch Henry den geschäftlichen Erfolg aus einem bestimmten Grund geschenkt. Ich habe nie gehört, dass er irgendeinen seiner Erfolge auf sich selbst zurückführte. Für alles, was gut gelaufen ist, hat er Gott gedankt. Bei allem, was nicht gut lief, stellte er sich einfach die Frage: Was will Gott, dass ich daraus lerne? Was will er, dass ich jetzt, wo es passiert ist, tue? Diese Denkweise hatte ihn mit Demut durch die guten Jahre getragen. Jetzt trug sie ihn mit Mut durch die schmerzhaften Jahre.

 

Unser Torahabschnitt (Terumah) beginnt mit den Worten: „Befiehl den Israeliten, dir klares, zerstoßenes Olivenöl für das Licht zu bringen, damit die Lampe immer brennt“ (Ex. 27:20). Die Weisen zogen einen Vergleich zwischen dem Ölbaum und dem jüdischen Volk. Rabbi Joshua ben Levi fragte: „Warum wird Israel mit einer Olive verglichen? So wie ein Ölbaum erst bitter und dann süß ist, so leidet Israel in der Gegenwart, aber im kommenden Zeitalter ist ein großes Gut für es aufbewahrt. Und so wie die Olive ihr Öl nur gibt, wenn sie zerdrückt wird - wie geschrieben steht: klares Olivenöl, zer-drückt für das Licht -, so erfüllt Israel [sein volles Potenzial in] der Torah nur, wenn es durch Leiden ausgepresst wird“.4

 

Das Öl war natürlich für die Menorah bestimmt, deren immerwährendes Licht - zuerst im Heiligtum, dann im Tempel und jetzt, da wir keinen Tempel mehr haben, das mehr geheimnisvolle Licht, das von jedem heiligen Ort, jedem Leben und jeder Tat ausstrahlt - das göttliche Licht symbolisiert, das das Universum für diejenigen durchflutet, die es mit den Augen des Glaubens sehen. Um dieses Licht zu erzeugen, muss etwas zerbrochen werden. Und hier liegt die lebensverändernde Lektion.

 

Leiden ist schlecht. Das Judentum macht keinen Versuch, diese Tatsache zu verbergen. Im Talmud wird von verschiedenen Weisen berichtet, die krank wurden. Auf die Frage: „Sind deine Leiden für dich wertvoll?“ antworteten sie: „Weder sie noch ihr Lohn.“5 Wenn sie uns oder jemandem, der uns nahe steht, widerfahren, können sie uns zur Verzweiflung bringen. Wir können aber auch stoisch reagieren. Wir können uns in der Eigenschaft der gevurah üben, der Stärke im Unglück.

 

Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Wir können so reagieren, wie Henry reagiert hat, mit Mitgefühl, Freundlichkeit und Liebe. Wir können wie die Olive werden, die, wenn sie zerdrückt wird, das reine Öl hervorbringt, das das Licht der Heiligkeit entzündet.

 

Wenn guten Menschen Schlimmes wider-fährt, wird unser Glaube in Frage gestellt. Das ist eine natürliche Reaktion, keine ketzerische. Abraham fragte: „Soll der Richter der ganzen Erde nicht Gerechtigkeit üben?“ Mose fragte: „Warum hast du diesem Volk Leid zugefügt?“ Doch letztlich ist das die falsche Frage: „Warum ist das geschehen?“ Wir werden es nie wissen. Wir sind nicht Gott und sollten auch nicht danach streben, es zu sein. Die richtige Frage lautet: „Was soll ich tun, wenn dies geschehen ist?“

 

Die Antwort darauf ist nicht ein Gedanke, sondern eine Tat. Es geht darum, zu heilen, was geheilt werden kann, medizinisch (heilkundlich) im Falle des Körpers, psychologisch (besser gesagt „geistlich“) im Falle des Geistes. [Das erfordert manchmal auch einen beruflichen Neuanfang, einen Wechsel des Wohnortes oder das Lösen von schädlichen menschlichen Beziehungen, soviel an uns liegt.]

 

Unsere Aufgabe ist es, Licht in die dunklen Ecken unseres Lebens und des Lebens anderer Menschen zu bringen. Das ist es, was Henry getan hat. Renata litt immer noch. Das tat er auch. Aber ihr Geist siegte über ihre Körper. Zerschlagen strahlten sie Licht aus. Niemand soll glauben, dass dies einfach ist. Es erfordert einen extremen Glaubensakt. Doch gerade hier spüren wir die Macht des Glaubens, Leben zu verändern. So wie große Kunst Schmerz in Schönheit verwandeln kann, so kann großer Glaube Schmerz in Liebe und heiliges Licht verwandeln.

 


 

1 von heute gerechnet vor zwölf Jahren

2 von heute gerechnet vor sechs Jahren

3 2. Sam. 1:23

4 Midrasch Pitron Torah zu Num. 13:2.

5 Brachot 5b