Gründliche Analyse des Buches Ruth

(rabbisacks.org)


 

Die Geschichte von Ruth ist eine der schönsten der Bibel. Sie beginnt mit Verzweiflung und Kummer. Die Hungersnot zwingt Elimelech zusammen mit seiner Frau Naomi und ihren beiden Söhnen, ihr Haus in Bethlehem (= „Brothausen“) zu verlassen, um nach Moab zu gehen und dort Nahrung zu finden. Dort heiraten die Söhne moabitische Frauen, aber alle drei Männer sterben und lassen Naomi und ihre beiden Schwiegertöchter als kinderlose Witwen zurück. Naomi beschließt, nach Hause zurückzukehren, und Ruth, die ihren Sohn Machlon geheiratet hatte, besteht darauf mit ihr zu gehen.

 

Dort, in Bethlehem, auf einem Feld zur Erntezeit, trifft Ruth einen Verwandten Naomis, Boas, der ihr gegenüber freundlich auftritt. Später, auf Naomis Vorschlag hin, bittet Ruth ihn, die Rolle eines „verwandten Erlösers“ (hebr. goel) zu übernehmen. Boas tut dies mit bereitwilligem und fröhlichem Herzen. Er und Ruth heiraten und bekommen ein Kind, das ein Vorfahre König Davids sein wird.

 

Das Buch, das mit dem Tod beginnt, endet mit neuem Leben. Es ist eine Geschichte über die Macht der menschlichen Freundlichkeit, die das Leben aus der Tragödie erlösen kann, und ihre Botschaft ist, dass aus Leid, wenn es durch Liebe verwandelt wird, neues Leben entstehen und Hoffnung aufkeimen kann.

 

Die (jüdischen) Kommentatoren stellen zwei Hauptverbindungen zwischen Ruth und Schawuot (Pfingsten) her. Die erste ist jahreszeitlich bedingt. Die Schlüsselereignisse des Buches spielen zur Zeit der Gersten- und Weizenernte, der Zeit der Omer-Zählung (ein bestimmtes Getreideopfer) und Schawuot selbst.

 

Der zweite ist inhaltlich bedingt. Ruth wurde zum Paradebeispiel Fall einer Konvertitin zum Judentum. Um zu konvertieren, muss man in den Bund vom Sinai mit seinem Leben der Gebote eintreten: was die Israeliten taten, als sie die Tora Moses am ersten Schawuot annahmen.


Das Buch der Treue und Liebe

 

Alle drei Megillot (= Schriftrollen), die zu den drei Hauptfesten gelesen werden, handeln von der Liebe: die Stufen der Liebe, wie wir sie in unserem Wachstum von der Jugend über die Reife bis zum Alter erfahren.

 

Das Hohelied der Liebe, das an Pessach, dem Frühlingsfest, gelesen wird, handelt von der Liebe im Frühling: die Leidenschaft zwischen zwei Liebenden, die nichts von gestern oder morgen in sich trägt, sondern in der überwältigenden Intensität von heute lebt. Das Buch ist durch eine eine Reihe von Duetten zwischen Geliebtem und Liebendem gegliedert, ihre Stimmen sind aufgeladen mit Begehren. Es gibt nichts über das Werben, Heiraten, Hausbau und Kinderkriegen: die Welt der erwachsenen Pflichten. Die Liebenden sehnen sich einfach danach, zusammen zu sein.

 

Kohelet (= Prediger), gelesen an Sukkot, dem Herbstfest, handelt von der Liebe im Herbst des des Lebens, wenn die Hitze abkühlt, das Licht verblasst, die Blätter fallen und die Wolken die Sonne verdecken. „Lebe gut, mit der Frau, die du liebst“, sagt Kohelet (9:9). Das ist die Liebe als Gemeinschaft, und sie ist reich an Ironie. Kohelet ist quasi eine Autobiographie von König Salomo, des Königs, der siebenhundert Frauen und dreihundert Konkubinen heiratete (1. Könige 11:3) und am Ende resümiert: „Und dies ist, was ich gefunden habe: Die Frau ist bitterer als der Tod, denn sie ist voller Fallen und hat Netze in ihrem Herzen gelegt; ihre Arme sind ein Gefängnis“ (Kohelet 7:26). Aber tausend Frauen werden dir kein Glück bringen, die Treue zu einer wird es sein.

 

In Ruth geht es um die Liebe, die das Herz des Judentums ausmacht, die Liebe des Sommers, wenn die Leidenschaft der Jugend gezähmt ist und die Wolken des Alters den Himmel noch nicht bedecken. In Ruth geht es um Liebe als Loyalität und Treue, die Bindung an einen anderen in einem Band von Verantwortung und Gnade. Es geht darum, sich mehr um den anderen zu kümmern als um sich selbst.

 

Es geht um Ruth, die ihre eigenen Ambitionen zurückstellt, um sich um ihre Schwiegermutter Naomi zu kümmern, die ihren Mann und zwei Söhne verloren hat. Es geht darum, was Boas für Ruth tut. Die hebräische Wurzel a-h-v für „Liebe“, die im Hohelied achtzehnmal vorkommt, ist in Ruth nur einmal enthalten. Im Gegensatz dazu stehen die Worte chessed, liebende Güte, und das Verb g-a-l, „erlösen“. Im Hohelied kommen sie überhaupt nicht vor, in Ruth dagegen drei- bzw. vierundzwanzig Mal.

 

Die Megillot sind rahmende Elemente, die uns dazu zwingen, die Feste selbst in einem neuen Licht zu sehen. Wenn wir das Lied der Lieder an Passah lesen, verwandelt es unser Verständnis des Exodus von einem politischen Ereignis, der Befreiung der Sklaven.

 

Kohelet verwandelt Sukkot in eine philosophische Reflexion über die Sukka (= Laubhütte) als Symbol für die Sterblichkeit, den Körper dieser Zeit als vorübergehende Behausung. Es ist die ernüchternde Geschichte, wie Salomo, der weiseste aller Männer, den Tod zu verleugnen sucht, indem er Besitztümer, Ehefrauen, Diener und weltliche Weisheit anhäuft, doch bei jedem Schritt mit der Kürze und Verletzlichkeit des Lebens konfrontiert wird. Erst am Ende entdeckt er, dass die Freude in den einfachen Dingen zu finden ist: dem Leben selbst, gewürdigt durch Arbeit und verschönert durch Liebe.

 

Auch Ruth lädt uns ein, Schawuot neu zu betrachten, indem wir den Bundesschluss am Sinai nicht einfach als einen religiösen oder politischen Akt, sondern als einen Akt der Liebe ansehen, ein gegenseitiges Versprechen zwischen zwei Parteien (oder Partnern), die sich gegenseitig in einem Band der Verantwortung, Hingabe und Treue verbinden.

 

Der Bund am Sinai war eine Ehe zwischen Gott und den Kindern Israels. Der Bund am Sinai war ein Band der Liebe, dessen engste Entsprechung im Tanach (Hebräische Schriften der Bibel) die Beziehung zwischen Boas und Ruth ist. Eine der nachhaltigsten Verleumdungen der Religionsgeschichte war die Behauptung des „Christentums“ (eher Kirchentums), das Judentum sei keine Religion der Liebe, sondern des Gesetzes; nicht des Mitgefühls, sondern der Gerechtigkeit; nicht der Vergebung, sondern der Vergeltung.

 

Das Buch Ruth, gelesen am Sabbat von Schawuot, ist die eindeutige Widerlegung. Das Judentum ist eine Religion der Liebe, dreier Lieben: Gott zu lieben mit ganzem Herzen, ganzer Seele und mit ganzer Kraft (5. Mose 6:5); unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben (2. Mose 19:18); und den Fremden zu lieben, weil wir wissen, wie es sich anfühlt, ein Fremder zu sein (5. Mose 10:19).

 

Das Judentum ist von Anfang bis Ende die Geschichte einer Liebe: Gottes Liebe zu einem kleinen, ohnmächtigen und stark bedrängten Volk, und der Liebe eines Volkes zu Gott, die zuweilen zugegebenermaßen stürmisch war - für Gott. Das ist die Geschichte von Ruth: Liebe als Treue und Verantwortung, als eine Ehe, die neues Leben in die Welt bringt. Das ist die Liebe, die am Sinai am ersten Schawuot geweiht wurde.