Kohelet, Tolstoi und die rote Kuh

(rabbisacks.org)


 

Obwohl dieses Ritual (4. Mose 19) seit den Tagen des Tempels (heiligen Hauses) nicht mehr praktiziert wird, bleibt es dennoch bedeutsam, sowohl für sich selbst als auch für ein Verständnis dessen, was ein chok, üblicherweise als „Statut“ übersetzt, eigentlich ist.

 

Weitere Beispiele sind das Verbot Fleisch und Milch zusammen zu essen, Kleidung aus gemischter Wolle und Leinen (schatnez) zu tragen und ein Feld mit zwei Arten von Getreide zu bestellen (kilayim). Es gibt mehrere sehr unterschiedliche Erklärungen zu chukim.

 

Die bekannteste lautet, dass ein chok ein Gesetz ist, dessen Logik wir nicht verstehen können. Für Gott ergibt es Sinn, aber für uns nicht. Wir können nicht die Art von kosmischer Weisheit anstreben, die es uns erlauben würde, seinen Sinn und Zweck zu erkennen.

 

Oder es ist vielleicht, wie Rav Saadia Gaon sagte, ein Gebot, das aus keinem anderen Grund gegeben ist als uns (orthodoxe Juden) zu belohnen, wenn wir es befolgen. Die (jüdischen) Weisen erkannten, dass Nichtjuden zwar die jüdischen Gesetze, die auf sozialer Gerechtigkeit (mishpatim) oder historischem Bewusstsein (edot) beruhen, verstehen können; jedoch erscheinen Gebote wie das Verbot, Fleisch und Milch zusammen zu essen für andere als irrational und abergläubisch. Die Chukim waren Gesetze, über die „Satan und die Völker der Welt sich lustig machen“.

 

Rambam hatte eine ganz andere Sichtweise. Er glaubte, dass kein göttlicher Befehl irrational sei. Etwas anderes anzunehmen hieße, Gott als als minderwertig gegenüber den Menschen anzusehen. Die Chukim erscheinen nur deshalb als unerklärlich, weil wir den ursprünglichen Kontext vergessen haben, in dem sie verordnet wurden. Jedes von ihnen war eine Ablehnung von einer und eine Erziehung gegen eine götzendienerische Praxis. Zum größten Teil sind solche Praktiken jedoch ausgestorben, weshalb die Gebote heute schwer zu verstehen sind.

 

Eine dritte Sichtweise, die von Ramban im dreizehnten Jahrhundert übernommen und von Samson Raphael Hirsch im neunzehnten Jahrhundert artikuliert wird, ist, dass die Chukim Gesetze sind, die uns die Integrität (Ganzheit) der Natur vor Augen malen. Die Natur hat ihre eigenen Gesetze, Domänen und Grenzen, deren Überschreitung eine Entehrung der göttlich geschaffenen Ordnung bedeutet und die Natur selbst bedroht. Deshalb kombinieren wir nicht tierische (Wolle) und pflanzliche (Leinen) Textilien, oder mischen tierisches Leben (Milch) und tierischen Tod (Fleisch). Was die Rote Kuh betrifft, so sagt Hirsch, dass das Ritual dazu dient, den Menschen von Depressionen zu befreien, die durch die Erinnerung an die menschliche Sterblichkeit hervorgerufen wird.

 

Meiner Ansicht nach sind die Chukim Befehle, die absichtlich das rationale Gehirn, den präfrontalen Kortex, umgehen. Die Wurzel, dem das Wort chok entstammt, ist ch-k-k, was „eingravieren“ bedeutet. Schreiben ist ober-flächlich; Gravieren geht viel tiefer als die Oberfläche. Rituale gehen tief unter die Oberfläche des Geistes, und zwar aus einem wichtigen Grund. Wir sind keine völlig rationalen Wesen, und wir können folgen-schwere Fehler begehen, wenn wir denken, dass wir es sind. Wir haben ein limbisches System, ein emotionales Gehirn. Wir haben auch eine extrem starke Reaktion auf potenzielle Gefahren, die sich in der Amygdala befindet, die uns dazu bringt, zu fliehen, zu erstarren oder zu kämpfen.

 

Ein moralisches System muss, um der menschlichen Natur angemessen zu sein, die Natur des Menschen erkennen. Es muss unsere Ängste ansprechen. Die tiefste Angst, die die meisten von uns haben, ist die vor dem Tod. Wie La Rochefoucauld sagte: „Weder die Sonne noch der Tod können mit einem ruhigen Auge betrachtet werden.“ Nur wenige haben sich mit dem Tod und dem tragischen Schatten, den er auf das Leben wirft, so tiefgründig auseinandergesetzt wie der Autor des Buches Kohelet (= Prediger):

 

„Das Schicksal des Menschen ist das Schicksal des Viehs; beide erwartet das gleiche Schicksal, der Tod des einen ist wie der Tod des anderen, ihre Geister sind dieselben, und die Überlegenheit des Menschen über das Vieh ist nichts, denn es ist alles ein Hauch. Alle enden an demselben Ort; alle entstehen aus dem Staub, und alle kehren zum Staub zurück“ (Kohelet 3:19-20).

 

Das Wissen, dass er sterben wird, gibt dem Prediger das Gefühl, dass sein Leben keinen Sinn hat. Wir haben keine Ahnung, was passieren wird, was nach unserem Tod mit dem geschieht, was wir im Leben erreicht haben. Der Tod macht Tugend zum Gespött: Der Held mag jung sterben, während der Feigling bis ins hohe Alter lebt. Und die Trauer ist auf eine andere Weise tragisch. Der Verlust eines geliebten Menschen bedeutet, dass das Gefüge unseres Lebens zerrissen wird, vielleicht unwieder-bringlich.

 

Der Tod verunreinigt uns im einfachsten und strengsten Sinne: Die Sterblichkeit öffnet einen Abgrund zwischen uns und Gottes Ewigkeit. Die Person, die in jüngerer Zeit am tiefsten erfahren und ausgedrückt hat, was Kohelet empfunden hat, war der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, der die Geschichte in seinem Essay Ein Bekenntnis erzählte. Als er ihn mit Anfang fünfzig schrieb, hatte er bereits zwei der größten Romane aller Zeiten veröffentlicht: Krieg und Frieden und Anna Karenina. Sein literarisches Erbe war gesichert. Seine Größe war allgemein anerkannt. Er war verheiratet und hatte Kinder. Er war wohlhabend. Seine Gesundheit war gut. Und doch überkam ihn das Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens angesichts der Erkenntnis, dass wir alle sterben werden. Er zitierte ausgiebig Kohelet. Er dachte über Selbstmord nach. Die Frage, die ihn verfolgte, war: „Gibt es irgendeinen Sinn in meinem Leben, der nicht durch die Unvermeidlichkeit des Todes, der mich erwartet, vernichtet wird?“

 

Er suchte in der Wissenschaft nach einer Antwort, aber alles, was sie ihm sagte, war, dass „in der Unendlichkeit des Raums und der Unendlichkeit der Zeit unendlich kleine Teilchen mit unendlicher Komplexität mutieren“. Die Wissenschaft beschäftigt sich mit Ursachen und Wirkungen, nicht mit Zweck und Bedeutung. Am Ende kam er zu dem Schluss, dass nur der religiöse Glaube das Leben vor der Sinnlosigkeit rettet.

 

Rationales Wissen, wie es von den Gelehrten und Weisen präsentiert wird, negiert den Sinn des Lebens.“ Was er für nötig hielt, war etwas anderes als rationales Wissen. „Der Glaube ist die Kraft des Lebens. Wenn ein Mensch lebt, dann muss er an etwas glauben ... Wenn er die Illusion des Endlichen versteht, ist er gezwungen, an das Unendliche zu glauben. Ohne Glauben ist es unmöglich zu leben.“

 

Deshalb muss es, um die Verunreinigung durch den Kontakt mit dem Tod zu besiegen, ein Ritual geben, das die rationale Erkenntnis umgeht. Daher der Ritus der Roten Kuh, bei dem der Tod im Wasser des Lebens aufgelöst wird; diejenigen, die damit besprengt werden, werden wieder rein gemacht, sodass sie in den Bereich der schechinah (= göttliche Gegenwart) eintreten können und den Kontakt zur Ewigkeit wiederherstellen können.

 

Heutzutage führen wir nicht mehr das siebentägige Reinigungsritual mit der Roten Kuh durch, aber wir haben die schiwa, die sieben Tage der Trauer, in denen wir von anderen getröstet werden und so wieder mit dem Leben verbunden werden. Unser Kummer wird allmählich durch den Kontakt mit Freunden und Familie aufgelöst, so wie die Asche der Kuh im „lebendigen Wasser“ aufgelöst wurde. Wir tauchen auf, immer noch traurig, aber in gewisser Weise gereinigt, geläutert und wieder fähig, dem Leben zu begegnen.

 

Ich glaube, dass wir aus dem Schatten des Todes heraustreten können, wenn wir uns von dem Gott des Lebens heilen lassen. Um dies zu tun, brauchen wir allerdings die Hilfe anderer. „Ein Gefangener kann sich nicht selbst aus dem Gefängnis befreien“, sagt der Talmud. Es brauchte einen Kohen, um das Wasser der Reinigung zu besprengen. Es braucht Tröster, um unseren Kummer zu lindern. Aber der Glaube - der Glaube aus der Welt des chok, tiefer als der rationale Verstand - kann helfen, unsere tiefsten Ängste zu heilen.

 

Die Überlebenden des Holocaust, die ich kennengelernt habe, sind erstaunlich hartnäckig und halten am Leben fest. Vielleicht liegt es daran, wie sie überlebt haben. Einige glaubten an Gott, andere nicht; aber sie alle glaubten an das Leben - nicht an das Leben, wie die meisten von uns es verstehen, als etwas Selbstverständliches, als Teil des Hintergrundes, eine Tatsache, die selten unsere Aufmerk-samkeit erregt, sondern an das Leben als etwas, für das man kämpfen muss, als einen bewusst artikulierten Wert, als etwas, dessen Zerbrech-lichkeit man sich ständig bewusst ist. Sie hatten, gemäß Paul Tillich, den „Mut zum Sein“