Jesu Präexistenz --- wörtlich oder ideell?
(Original: Jesus’ pre-existence – literal or notional? - www.thebiblejesus.com)
Unsere erste Aufgabe besteht darin, herauszufinden, welcher Jesus in der Bibel vorkommt. Das klingt recht simpel, aber wir alle bringen in die Bibel unsere eigenen Lehren aus der Kindheit, unsere eigenen kulturellen Vorurteile und insbesondere unsere eigenen ererbten kirchlichen Traditionen mit.
Ein hilfreicher Ansatzpunkt ist die Frage, ob Jesus vor seiner eigenen wundersamen Empfängnis im Schoß Marias gelebt hat. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die die Jungfrauengeburt leugnen. Es ist klar, dass Jesus selbst wusste, dass Gott in einzigartiger Weise sein Vater war und dass seine Empfängnis anders war als die aller anderen. Also bleibt die Frage, ob Jesus persönlich und bewusst mit Gott im Himmel existierte, bevor er wundersam gezeugt wurde? War der Sohn Gottes persönlich lebendig, bevor er in Maria empfangen wurde, bevor er ein menschliches Wesen wurde?
Das traditionelle Christentum bejaht diese Frage: Ja, Jesus hat als Gottessohn immer existiert. In der Tat war Jesus ganz am Anfang der Schöpfung in der Genesis mit Gott dem Vater und mit Gott dem Geist am Wirken. Es gab nie eine Zeit, in der Gott der Sohn nicht persönlich existierte, aber um die um die verlorene Menschheit zu retten, legte Jesus seine ewige Herrlichkeit ab und "nahm Fleisch an", damit er bluten und sterben konnte, um die Menschheit zu erlösen und uns zu Gott zurückzubringen. Die moderne Theologie nennt diesen buchstäblichen Abstieg vom Himmel auf die Erde in Bethlehem die "Inkarnation".
Zur Unterstützung dieser Art von bewusster und persönlicher Präexistenz wird eine Reihe von "Standard"-Versen zitiert --- Jesus ist das Wort, das im Anfang bei Gott war (Johannes 1,1) ... Jesus sagte, er kam vom Himmel herab (Johannes 6,38) ... Jesus behauptete, schon vor Abraham als der "ICH BIN" zu existieren (Johannes 8,58) ... Jesus betete darum, die Herrlichkeit zu bekommen, die er persönlich bei Gott hatte, bevor die Welt begann (Johannes 17,5) ... Jesus schuf den Himmel und die Erde (Kol. 1,16) ... Jesus hat in seiner Natur immer als Gott existiert (NIV Phil 2,6), usw. Jeder Westler, der diese Verse liest, findet es natürlich, einen Jesus zu sehen, der tatsächlich und bewusst vor seiner wundersamen "Inkarnation" existierte. Dies kann man als eine "buchstäbliche" oder "tatsächliche“ Präexistenz ansehen. Dies ist die heute mehrheitlich vertretene Auffassung.
Es gibt jedoch noch eine zweite Art der Präexistenz, die von der Bibelwissenschaft weitgehend anerkannt ist. Aber leider haben die meisten Kirchenbesucher noch nicht einmal davon gehört. Dies ist ein Fall, in dem Unwissenheit ein Segen zu sein scheint. Eine solche Unwissenheit ist zu unserer Schande, denn sie verzerrt Jesus, indem sie ihn aus seinem kulturellen Umfeld herausreißt. Solche Unwissenheit schafft einen „anderen Jesus“, ja einen „falschen Christus“, vor dem uns unser Herr selbst gewarnt hat.
Die jüdische Weltanschauung bestand darin, dass etwas Geplantes (d. h. im Ratschluss Gottes Vorherbestimmtes) gedanklich oder ideell existiert, aber noch nicht tatsächlich auf der Erde in unserer Erfahrungswelt. David Capes' Artikel über „Preexistence“ im Dictionary of the Later New Testament & Its Developments stellt hilfreich fest, dass
der präexistente Zustand als ideal (Existenz im Geist oder Plan Gottes) oder tatsächlich (Existenz neben und in Abgrenzung zu Gott) gesehen werden kann.1
In der Bibelwissenschaft ist man sich also darüber im Klaren, dass Präexistenz entweder bedeuten kann, dass etwas oder jemand buchstäblich im Himmel existiert (das bereits erwähnte Modell der „Inkarnation“), oder nach dem jüdischen „ideellen“ Modell, bei dem etwas oder jemand in Gottes Geist existiert, bevor er es buchstäblich in die materielle Existenz bringt.
Es gibt einen Berg von jüdischer Literatur, die bestätigt, wie allgegenwärtig die „ideelle“ Präexistenz im jüdischen Denken zur Zeit Christi war. Larry Hurtado, einer der bedeutendsten Gelehrten der modernen Christologie, stellt fest:
Es besteht heute praktisch ein Konsens unter den Gelehrten, dass die vorchristliche jüdische Tradition den wichtigsten Hintergrund für die Idee der Präexistenz im NT liefert.2
Bezüglich des jüdischen Verständnisses des Vorherwissens ist der Artikel in der International Standard Bible Encyclopedia hilfreich:
… der Begriff "Vorherwissen" ist eine Erweiterung der Vorstellung von Gottes „Ratschluss“ oder Plan, der als eine intelligente Vorbestimmung betrachtet wird, wobei der Begriff des Vorherwissens mit dem der Vorherbestimmung gleichgesetzt wird. Derselbe Gedanke findet sich in [1. Petr 1,20]. Hier spricht der Apostel von Christus als einem Lamm, das Gott vor Grundlegung der Welt „vorherbestimmt“ hat ... Es enthält die Vorstellung einer Absicht, die den Ablauf des göttlichen Verlaufes bestimmt.3
Diese Beweise müssen ernsthaft in Betracht gezogen werden, bevor wir zu dem Schluss kommen, dass Jesus tatsächlich lebte, als Gott lebte und sich dessen bewusst war, bevor er auf der Erde erschien. Ansonsten laufen wir Gefahr, der Bibel unsere eigene traditionelle kulturelle Lesart aufzuerlegen, egal wie „orthodox“ wir sie halten mögen. Das ist der Fehler der Eisegese, des Hineinlesens in den Text, und nicht der Exegese, des Herauslesens aus dem Text, wie es die ursprünglichen Leser vor Tausenden von Jahren getan hätten.
Die ideelle Präexistenz ist die Vorstellung, dass etwas oder jemand in den Gedanken Gottes „existiert“, bevor es/er/sie sich auf der Erde zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte verwirklicht. Was Gott beabsichtigt und beschließt, wird als so sicher angesehen, dass so davon gesprochen wird, als würde es bereits existieren.
In der Tat ist Gott derjenige, der „das, was nicht ist, so nennt, als ob es (da) wäre“ (Röm. 4:17). Das heißt: was Gott verheißt, existiert bereits bei ihm „im Himmel“. Wenn Juden von etwas oder jemandem sprachen, das/der im Himmel bereits existiert, verstanden sie es als „ideell“ in Gottes Vorherwissen, aber noch nicht tatsächlich auf der Erde existierend. Das heißt: es existierte bereits in Gottes Gedanken und in Gottes Plan.
Es gibt einen Berg jüdischer Literatur, der bestätigt, wie weit verbreitet die „ideelle“ Präexistenz in ihrer Weltanschauung war. Man bräuchte ein ganzes Buch, um aufzuzeichnen, wie allumfassend dieses Denken im jüdischen Geist war. Hier können nur einige wenige Quellen angeführt werden, aber es ist wichtig zu wissen, dass diese Art von Kommentar in der jüdischen Literatur allgegenwärtig ist. Wir werden uns auch einige Beispiele aus der Heiligen Schrift ansehen, um diese kurze Studie zu vervollständigen.
Werfen wir also zunächst einen kurzen Blick auf einige der wichtigsten außerbiblischen Schriften aus diesen jüdischen Quellen. Abgesehen von den Hebräischen Schriften selbst ist der Babylonische Talmud die maßgebliche jüdische Literatur. Er enthält die Mischna und 600 Jahre rabbinischer Kommentare. Ein Großteil des Babylonischen Talmuds bildet einen wichtigen Hintergrund für die Art und Weise, wie Juden über die Präexistenz in den Zeiten vor, während und kurz nach der apostolischen Zeit des Neuen Testaments dachten. Diese wird von den Wissenschaftlern die Zeit des Zweiten Tempel genannt. Beachten Sie den folgenden Auszug aus dem Babylonischen Talmud, Traktat Pesahim 54a:
Sieben Dinge wurden erschaffen, bevor die Welt erschaffen wurde, und das sind sie: Tora, Umkehr, der Garten Eden, die Gehenna, der Thron der Herrlichkeit, das Haus des Heiligtums und der Name des Messias. Tora: „Der Herr besaß mich am Anfang seines Weges, vor den Werken der Vorzeit“ (Spr 8,22). Buße: „Noch bevor die Berge entstanden, noch bevor du die Erde und den Erdkreis gebildet hast, ... wendest du den Menschen zum Verderben und sprichst: Tut Buße, ihr Menschenkinder!“ (Ps 90,2). Der Garten Eden: „Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden.“ (Gen 2,8). Gehenna: „Denn Tophet ist von alters her bestimmt“ (Jes. 30,33). Der Thron der Herrlichkeit: „Dein Thron steht von alters her fest“ (Ps 93,2). Das Haus des Heiligtums: „Ein herrlicher hoher Thron ist von Anfang an der Ort unseres Heiligtums" (Jer 17,12). Und der Name des Messias: „Sein Name wird für immer Bestand haben und hat vor der Sonne existiert (Ps 72,17).
Beachten Sie, dass sieben Dinge, einige materiell, wie der Garten Eden und die Stiftshütte, und andere immateriell, wie die Buße und die Tora, vor ihrem tatsächlichen Erscheinen auf der Erde existieren. Zu diesen sieben Dingen, die bereits existieren, gehört auch der Name des Messias. Ein weiterer midraschischer Kommentar heißt Genesis Rabbah. Nach der Bemerkung, dass die Tora der Bauplan für die Schöpfung sei, spricht der Verfasser von einer Präexistenz.
Sechs Dinge gingen der Erschaffung der Welt voraus; einige von ihnen wurden tatsächlich erschaffen, während die Erschaffung der anderen bereits in Betracht gezogen wurde. Die Tora und der Thron der Herrlichkeit wurden geschaffen. Die Tora, denn es steht geschrieben: „Der Herr hat mich zum Anfang seines Weges gemacht, vor seinen Werken der Vorzeit“ (Spr 8,22). Der Thron der Herrlichkeit, denn es steht geschrieben: „Dein Thron ist errichtet von alters her“ usw. [sic] (Ps 93,2). Die Erschaffung der Patriarchen wurde in Betracht gezogen, denn es steht geschrieben: „Ich sah eure Väter wie die ersten Früchte am Feigenbaum zur ersten Zeit“ (Hosea 9,10). [Die Erschaffung von] Israel, denn es steht geschrieben: „Gedenke an deine Gemeinde, die du vorzeiten erworben hast“ (Ps 74,2). Man dachte an die Erschaffung des Tempels, denn es steht geschrieben, „Du Thron der Herrlichkeit, in der Höhe von Anfang an, die Stätte unseres Heiligtums“ (Jer 17,12). Der Name des Messias wurde in Betracht gezogen, denn es steht geschrieben: „Sein Name besteht vor der Sonne“ (Ps 72,17).
Man beachte noch einmal die Unterscheidung zwischen Dingen, die tatsächlich geschaffen wurden, und Dingen, die zuvor in Gottes Geist erdacht wurden. Die Tora und der Thron der Herrlichkeit wurden geschaffen, während die Patriarchen, die Kinder Israels, der Tempel und der Name des Messias alle in Gottes Absichten und Überlegungen eingebettet waren. Gottes Absichten und Pläne, die auf die buchstäbliche Schöpfung zu gegebener Zeit warten.
Genesis Rabba, auch bekannt als Bereshit Rabba, ist ein exegetischer Midrasch (Auslegung) über das erste Buch der hebräischen Bibel. Er ist sowohl auf Aramäisch als auch auf Hebräisch verfasst und enthält detaillierte Kommentare zu einer Vielzahl von Kapiteln und Versen der Genesis. Nach der Feststellung, dass die Tora das Mittel war, mit dem Gott die Schöpfung anordnete, schreibt der Autor:
Wenn in der menschlichen Praxis ein sterblicher König einen Palast baut, dann baut er ihn nicht mit seinem eigenen Geschick, sondern mit dem Geschick eines Architekten. Der Architekt baut ihn auch nicht aus dem Kopf, sondern mit Hilfe von Plänen und Diagrammen, um zu wissen, wie er die Kammern und die Schlupftüren anordnen muss. So konsultierte Gott die Tora und schuf die Welt, während die Tora erklärt: „Im Anfang schuf Gott (1,1)“, wobei sich „Anfang“ auf die Tora bezieht, wie in dem Vers: „Der Herr hat mich zum Anfang seines Weges gemacht (Spr 8,22).“
Diese Stelle spricht von der Präexistenz der Tora als dem Konzept, mit dem Gott die Genesis-Schöpfung anordnete. Bei dem Versuch, dieses Bild zu vermitteln, verwendet der Autor das Bild eines Architekten, der Pläne und Diagramme verwendet, um sein Werk zu vollenden. Auf diese Weise war die Tora in Gott dem Architekten mit Plänen und Schemata vorhanden, also auf diese Weise bereits existent. Um eine solche Position zu rechtfertigen, zitiert der Autor Spr 8,22, in dem von einer personifizierten Weisheitsfigur als „Werkmeister“ die Rede ist (Spr 8,30), der an der Seite des Schöpfergottes arbeitet, durch den er den Kosmos ordnete. Dies zeigt, dass Tora und Weisheit als bereits existierende Pläne und Ziele verstanden wurden, die Gott bei der Schöpfung nutzte.
Der Autor äußert sich außerdem über die Natur der Dinge, die bei Gott bereits vorhanden sind. Er erklärt den Satz „Im Anfang schuf Gott“ wie folgt:
Sechs Dinge gingen der Erschaffung der Welt voraus; einige von ihnen wurden tatsächlich erschaffen, während die Erschaffung der anderen bereits in Erwägung gezogen wurde. Die Tora und der Thron der Herrlichkeit wurden erschaffen. Die Tora, denn es steht geschrieben: „Der Herr hat mich zum Anfang seines Weges gemacht, vor seinen Werken der Vorzeit“ (Spr 8,22). Der Thron der Herrlichkeit, denn es steht geschrieben: „Dein Thron ist von alters her errichtet“ usw. [sic] (Ps 93,2). Die Erschaffung der Patriarchen wurde in Erwägung gezogen, denn es steht geschrieben: „Ich sah eure Väter wie die ersten Früchte des Feigenbaums zur ersten Jahreszeit“ (Hos 9,10). Man erwog die Erschaffung Israels, denn es steht geschrieben: „Gedenke deiner Gemeinde, die du vorzeiten erkauft hast“ (Ps 74,2). Die Erschaffung des Tempels wurde erwogen, denn es steht geschrieben: „Du Thron der Herrlichkeit, in der Höhe von Anfang an, die Stätte unseres Heiligtums“ (Jer 17,12). Der Name des Messias wurde in Betracht gezogen, denn es steht geschrieben: „Sein Name besteht vor der Sonne“ (Ps 72,17).
Wie ich bereits angedeutet habe, gibt es in den jüdischen Schriften einen wahren Berg von ähnlichen Kommentaren. In diesem kurzen Artikel wurde genug dargelegt, um dies zu zeigen (um Dr. Smith zu zitieren) ...
dass die Juden häufig sowohl von Menschen als auch von Gegenständen als präexistent sprachen, obwohl diese Präexistenz streng in den Gedanken und für die Zwecke Gottes ist. Mit anderen Worten, diese Präexistenz ist eher ideell als buchstäblich. Zu den Personen, die in Gottes Geist präexistent sind, gehören die Patriarchen Abraham, Isaak, Jakob, der Vermittler Mose, die Gemeinde Israel und sogar der Messias. Zu den Objekten, die in Gottes Plänen bereits existieren, gehören der Tempel, der Thron der Herrlichkeit, Gehenna, der Garten Eden, die Torah, der neue Himmel und die neue Erde sowie die Stadt Jerusalem. Niemand hat ernsthaft in Erwägung gezogen, dass die genannten Personen buchstäblich eine vormenschliche Existenz bei Gott im Himmel besaßen, um dann in einer Art Inkarnation auf die Erde zu kommen. Vielmehr wurden sie in den Plänen für Israel so sehr geschätzt und gewürdigt, dass Gott sie in seinem Plan und seinem Vorherwissen bereits berücksichtigt und in Betracht gezogen hatte ...
Wenn, wie alle Bibelwissenschaftler wissen, die Bibel aus jüdischen Denkmustern stammt, ist es logisch zu fragen, welches Modell der Präexistenz wir auf den Seiten der Heiligen Schrift selbst finden. Die Bibel ist unsere endgültige Autorität.
Ein klassisches Beispiel für dieses jüdische Ideal der Präexistenz, das direkt aus einem rabbinischen Kommentar des Zweiten Tempels und als biblisches Beispiel verwendet wird, betrifft die Stiftshütte, die Moses in der Wüste baute. Mose wurde angewiesen, die Stiftshütte nach einem „Muster“ zu bauen, das Gott ihm auf dem Berg zeigte (Num 8,4). Der himmlische Bauplan sollte befolgt werden. Die Priester und die Stiftshütte dienen als „ein Abbild und ein Schatten der himmlischen Dinge (Hebr 8,5). Noch einmal: der Gedanke ist, dass das Wörtliche auf der Erde im in den Gedanken und Absichten Gottes bereits vorher im Himmel existierte.
Wie wir gesehen haben, wandten die Juden dieses Denken auf viele ihrer großen nationalen Schätze an. Wir haben gesehen: Sie entwickelten die Idee eines „göttlichen, präexistenten Jerusalems, das von Gott in den himmlischen Örtern bereitet wurde, dort von jeher, und bereit, eines Tages unter die Menschen herabzukommen. Das alte Haus wird zusammengeklappt und weggenommen, und ein wunderbares neues Haus, das der Herr gebaut hat, kommt und nimmt seinen Platz ein (Henoch 90, 28.29). Das präexistente Jerusalem wurde Adam gezeigt, bevor er sündigte.“4.
Wenn also im Buch der Offenbarung in Kapitel 21,10 das neue Jerusalem „von Gott aus dem Himmel herabkommend" gesehen wird, so ist damit nicht gemeint, dass die Stadt bereits gebaut ist und buchstäblich aus dem Weltall herabsteigt. Im typisch jüdischen Denken ist das neue Jerusalem ideell, aber es wird eines Tages buchstäblich real werden, weil es im Plan und in der Verheißung Gottes bereits existiert.
Ist Ihnen bewusst, dass Sie Ihren neuen, unsterblichen Auferstehungsleib bereits haben (2 Kor 5,1)? Er existiert bereits im Himmel, aber Sie haben ihn noch nicht buchstäblich. Und Sie können eine Belohnung (Gegenwart Zeitform) bei Gott im Himmel haben (Mt 6,1). Das erklärt in perfekter jüdischer Denkweise, wie Jesus um die Herrlichkeit beten konnte, die er bei Gott im Himmel vor Grundlegung der Welt hatte, ohne irgendeine Vorstellung, dass er sie persönlich in einem Zustand vor der Inkarnation erlebt hätte. In der Tat, in diesem gleichen Gebet (Johannes 17,22.24) hatten Sie als Messias-Gläubiger auch die gleiche Herrlichkeit, bevor Sie geboren wurden! (Nebenbei bemerkt: die Übersetzungen, die Jesus sagen lassen, dass er zum Vater „zurückgeht“ oder in den Himmel „zurückkehrt“, sind sehr, sehr unanständig! Der griechische Text sagt nichts dergleichen, sondern nur, dass er „zum Vater geht“ bzw. „aufsteigt“ zu Gott in den Himmel).
In dem Vers, auf den wir vorhin in Römer 4,17 angespielt haben, wo Gott „das, was [noch] nicht existiert, als [bereits] existierend“ bezeichnet, ist zu beachten, dass sich der Kontext auf Isaak bezieht, der „in den Gedanken und Absichten Gottes real war, bevor er gezeugt wurde".5
Ebenso war Jesus, der Christus, „vorherbestimmt vor Grundlegung der Welt, aber er ist erschienen in dieser letzten Zeit“ um unsertwillen (1. Petrus 1,20). Wir wissen, dass dies nicht bedeutet, dass Jesus persönlich der Welt bekannt war, denn im selben Kapitel heißt es, dass auch wir Christen „im Vorherwissen Gottes, des Vaters“ waren (V.2). Petrus verwendet also denselben Begriff des „Vorherwissens“, um sich sowohl auf Christen als auch auf Jesus Christus zu beziehen. Wir Christen sind nicht buchstäblich schon vor unserer Geburt im Himmel vorhanden. „Es ist die göttliche Bestimmung für Christus, die von Anfang an existierte, nicht er selbst, in dem sie sich verwirklichen sollte; so kann Paulus von der göttlichen Bestimmung für diejenigen sprechen, die an Christus glauben“ (Röm. 8, 28-30).6
In ähnlicher Weise spricht die Bibel von Jesus als dem Lamm Gottes, das gekreuzigt wurde, bevor die Welt begann. (Zwar könnte man den Vers grammatikalisch auch so deuten, dass die Namen der Erlösten, die „von Grundlegung der Welt an in das Buch des Lebens des geschlachteten Lammes geschrieben sind“. Aber das ist wirklich nur ein strittiger Punkt, weil es an anderer Stelle eine klare Aussage gibt, dass Jesus der Obrigkeit zur Kreuzigung übergeben wurde, und zwar „nach dem festen Plan und Vorherwissen Gottes" (Apostelgeschichte 2,23). Der Punkt ist, dass es offensichtlich ist, dass Jesus nicht buchstäblich gekreuzigt wurde, bevor die Welt begann. Aber im klassischen jüdischen Denken plante Gott die Kreuzigung, bevor die Welt begann. Der Gedanke war real, aber noch nicht historisch verwirklicht. Das, was sich in der Geschichte unter Pontius Pilatus verwirklichte, war nach Gottes Plan bereits geschehen, bevor die Welt begann!
Das Buch der Epheser ist voll von dieser ideellen Präexistenz. Wir Christen wurden erwählt in Christus „vor Grundlegung der Welt“ und nach Gottes gnädiger Bestimmung zur Sohnschaft in Gottes Plan „vorherbestimmt“ (Eph 1,4ff). Kein bibelgläubiger Mensch denkt auch nur einen Moment lang, dass dies bedeutet, dass wir persönlich schon vor Anbeginn der Welt existierten. Unsere bereits bestehende Erwählung ist ideell, nicht buchstäblich.
An einem zukünftigen Tag, bei seiner Wiederkunft, wird unser Herr Jesus zu den Seinen sagen: „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid! Ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an“ (Mt 25,34). In der Sprache des Paulus ist diese Hoffnung „für euch im Himmel aufbewahrt“. Der „Himmel“ ist hier eine Metapher, die die von Gott verheißene Zukunft bezeichnet und von der gesagt wird, dass wir sie ideell (gedanklich) bereits besitzen. So beschreibt es auch Paulus, der sagt, dass diejenigen von uns, die bereits gerettet und vor Gott gerechtfertigt sind, „verherrlicht“ sind [beachten Sie die Vergangenheitsform, obwohl die buchstäbliche Erfüllung noch in der Zukunft liegt] (Röm. 8,30).
Wir können nun fragen, welche Art der Präexistenz wir auf den Messias Jesus anwenden sollen, wenn wir zur Bibel kommen? Hat Jesus seine eigene Geburt buchstäblich und persönlich präexistiert, wie das traditionelle Denken uns heute glauben machen will? Oder passt das jüdische Modell der ideellen Präexistenz besser?
Bis hin zum symphonischen Schluss der biblischen Offenbarung sehen wir das Modell der ideellen Präexistenz vor Augen gemalt. Als Johannes auf der Insel Patmos in die apokalyptischen Realitäten blickte, hält er für seine Leser den symphonischen Chor der himmlischen Heerscharen fest. In einer solchen Vision bringen vierundzwanzig Älteste dem auf dem Thron Sitzenden ihre Anbetung dar und erklären kühn:
„Du, unser Herr und unser Gott, bist würdig, Herrlichkeit und Ehre und Macht zu empfangen; denn du hast alle Dinge erschaffen, und nach deinem Willen waren sie und wurden sie erschaffen“ (Offb 4,11).
Ich habe mich oft über diese ungewöhnliche Wendung aufgeregt ... „nach Deinem Willen waren sie und wurden sie geschaffen“. Jetzt, wo ich die „ideelle“ Präexistenz verstehe, verstehe ich die volle Bedeutung. Diese Szene der Anbetung gibt Herrlichkeit und Ehre und Macht für Gott aus einem bestimmten Grund: Er ist der Schöpfer aller Dinge. Und wie genau hat Gott alle Dinge geschaffen, die jetzt materiell und existent sind? Die Antwort lautet: Gott besaß einen Willen, ein Verlangen, das in seinen Absichten enthalten war, um zu erreichen, was er wollte. Gottes Plan sah vor, dass alle Dinge „waren“ (bereits), und dann wurden sie „geschaffen“ (wörtlich).
Mit anderen Worten: Im Rahmen von Gottes Willen können die Dinge als bereits existierend bezeichnet werden, bevor sie tatsächlich geschaffen wurden. Dies ist eine jüdische ideelle Präexistenz wie aus dem Lehrbuch, da alle Dinge in Gottes Geist bereits existierten, bevor sie zu einer physischen und greifbaren Existenz kamen!
Zusammengefasst: Sowohl in außerbiblischen Kommentaren aus der jüdischen Welt des Zweiten Tempels (Jesu eigene Kultur), als auch in der Heiligen Schrift selbst wird gesagt, dass Gegenstände und Menschen begrifflich existieren, ohne dass sie sich buchstäblich im Himmel befinden, bevor sie sich zu Gottes Zeit hier auf der Erde materialisieren. Wenn dieses Paradigma auf jene Texte angewandt wird, die nach unserem westlichen Verständnis zu implizieren scheinen, dass Jesus persönlich vor seinem physischen Erscheinen auf der Erde bewusst (als Gott oder Engel) existiert hat, verschwindet die Verwirrung. Wie immer gilt auch hier, dass der Kontext den Sieg davontragen sollte! Überlassen wir es einem modernen jüdischen Schriftsteller, das letzte Wort zu haben …
Der Messias ... ist in den Gedanken Gottes gegenwärtig und vor der Schöpfung auserwählt und wird von Zeit zu Zeit den Gerechten zu ihrem Trost offenbart; aber er ist ... nicht buchstäbich präexistent. Er ist benannt und von Anfang an in den geheimen Gedanken Gottes verborgen, um schließlich in der Endzeit als der ideale Mensch offenbart zu werden, der Gottes Schöpfung der Welt rechtfertigen wird.7
Fußnoten
Ich bestätige meine umfassende Nutzung des Materials meines guten Freundes Dr. Dustin R. Smith in seinem Artikel mit dem Titel „John and Jewish Preexistence: An Attempt to Responsibly Set the Christology of the Fourth Gospel in its Proper Historical and Theological Matrix of Thought“, präsentiert auf der Atlanta Bible College Theological Conference im Jahre 2015. Dem interessierten Leser, der sich mit diesem Thema im Detail auseinandersetzen will, empfehle ich den gesamten Artikel von Dr. Smith.
1. David B. Capes, „Preexistence“, in DLNT, 956.
2. Larry Hurtado, „Preexistence“, in Dictionary of Paul and His Letters, 743.
3. Caspar Wistar Hodge, „Foreknow“, in ISBE, vol. 2, 1130.
4. William Barclay, Jesus as They Saw Him , Amsterdam: SCM Press, 1962, S. 136.
5. Everett F. Harrison, Romans, Expositor's Bible Commentary, Zondervan, 1976, S. 52, Hervorhebung des Autors.
6. Dunn, Christology in the Making, London, SCM Press, 1989, S. 235.
7. Hugh Schonfield. The Passover Plot, p. 256